Nach fünf Stunden wandern auf dem Oberen Plattenweg taucht hinter einem Bergrücken Soglio auf. "Soglio è la soglia del paradiso", soll der Trentiner Maler Giovanni Segantini Ende des 19. Jahrhunderts wortspielerisch über das Schweizer Bergdorf gesagt haben: Soglio ist die Schwelle zum Paradies. Ein Befund ohne Ablaufdatum.

Schwere Steinplatten, enge Gassen

Auf einer weiten, oft sonnigen Terrasse im Bergell, auf der sich der größte Edelkastanienwald der Schweiz ausbreitet, liegt das Dorf. Nur 200 Einwohner leben hier im Süden Graubündens in verwitterten Holzhäusern unter Dächern aus schweren Steinplatten. So dicht stehen die Häuser beieinander, dass man durch manche Gassen mit ausgebreiteten Armen nicht durchkommt.

Auf einer Terrasse mitten im Edelkastanienwald liegt das Bergdorf Soglio im Schweizer Bergell
Foto: swiss-image.ch/Andreas gerth


Jetzt ist die Zeit, die Val Bregaglia, wie das Bergell in seiner italienischen Amtsprache heißt, auf ihrem schönsten Wanderweg zu erleben: Der Obere Plattenweg durchzieht das Tal in seiner vollen Länge von Casaccia unterhalb des Malojapasses bis Castasegna an der italienischen Grenze. In der Regel sind die vier Hütten des Schweizer Alpenclubs nur bis Ende September geöffnet, doch bei beständigem Wetter kann es durchaus längere Öffnungszeiten geben. Davon abgesehen ist das Bergell mit seinen Seitentälern ein Wandertal per excellence.

Eine alte Handelsroute

Der Plattenweg bietet immer wieder neue, faszinierende Blicke ins Tal hinunter auf die intakten Dörfer, auf römische Wachtürme und alte Herrenhäuser. Irgendwie scheint es das Bergell geschafft zu haben, sich bis heute den großen Strömen des Fremdenverkehrs entzogen zu haben. Und das, obwohl seit Jahrtausenden Reisende durchs Tal kamen.

Heilung suchende Etrusker aus Oberitalien zogen bereits durch das Bergell ins Oberengadin zu den heilkräftigen Quellen des heutigen St. Moritz. Später lenkten die Römer ihren Verkehr durchs Tal zum Septimerpass, der ihnen eine direkte Verbindung zwischen Italien und dem Rheintal ermöglichte. Und jahrhundertelang bis in die Neuzeit zogen Händler durchs Tal mit seinem dichten Kastanienwald.

Wohnen in der Rösterei

Diesen Wald und seine Früchte betrachtet man im Bergell noch immer als großes Kapital. Manche der weiß verputzten Cascines, der Häuschen, in denen die Bauern des Tals ihre Maroni rösten, sind zu Feriendomizilen umfunktioniert. Wohl auch deshalb, weil man in Soglio ein wenig klagt, dass viele Bäume nicht mehr genügend Früchte trügen. Für das Kastanienfest im September oder Oktober scheint der Ertrag jedenfalls noch groß genug zu sein.

Einen ganzen Tag lang werden dafür Maroni gesammelt, einen weiteren Tag braucht es, bis der Boden wieder von den stacheligen Schalen befreit ist. Feine Rauchsäulen steigen von dort auf, wo die Abfälle verbrannt werden. Und zum Glück raucht es auch noch aus den Cascines. (Christoph Wendt, DER STANDARD, 20.9.2014)