Die Debatte darüber, wie man junge Menschen davon abhalten soll, sich für den Jihad zu begeistern, dreht sich im Kreis: "Die Muslime", identifiziert durch offizielle und inoffizielle islamische Institutionen, werden in die Pflicht genommen, und von dort kommt als erste Antwort üblicherweise eine Islam-Verteidigung. In der Tat, eine völlig geschichtsfreie Betrachtung des Christentums würde dieses wohl ebenfalls von den Verbrechen der Inquisition freisprechen (um nur ein Beispiel zu nennen). Aber das funktioniert eben nicht, auch nicht für den Islam, der mit dem Aufschwung der radikalen Strömungen im 20. und 21. Jahrhundert seine schlimmste Krise durchlebt. Es ist eine islamische Krise.

Darum ist es auch verständlich, dass sich jene, die sich mit dem Phänomen beschäftigen - vom Politiker bis zum Journalisten -, erst einmal an die Vertreter des Islam halten. Da spielt aber auch eine gute Portion Populismus mit herein: die Schuldzuweisung nach "außen" (das Fremde im eigenen Land) und die Illusion, dass, wenn diese eine Bruchstelle repariert wird, alles automatisch in Ordnung kommt.

Für Personen, für die das Thema schon existierte, bevor es so brisant wurde, ist die Diskussion jedoch über weite Strecken frustrierend - und erschreckend. Denn die Reduzierung "der Muslime" auf einen - von der Mehrheit so imaginierten - Islam, in der Forschung "Essenzialisierung" genannt, hat manchmal Anflüge von Neorassismus. Und sie führt auch an der Komplexität des Problems vorbei, mit dem wir jetzt konfrontiert sind.

Der Politologe Thomas Schmidinger, der sich in einer Deradikalisierungsinitiative engagiert, bringt es in Interviews gut auf den Punkt: Die Radikalisierten sind oft "religiöse Analphabeten". Das heißt, diese Jungen kommen, wenngleich nominell Muslime, nicht vom Islam zum Radikalismus, sondern von nichts zum Radikalismus. Der französische Islamwissenschafter und Soziologe Olivier Roy beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Frage: Der Kulturverlust - der immigrierten Eltern, der identitätslosen Umgebung - führe Jugendliche mit islamischem Hintergrund eher in den Extremismus als quasi "zu viel Islam", sagt er.

Wichtig ist auch der ebenfalls von Schmidinger angesprochene Punkt der Hipness und des Protestes: Mit Bewegungen wie dem "Islamischen Staat" zu sympathisieren ist als Affront gegen die Welt der Erwachsenen - in der es an allen Ecken und Enden kracht und selten die Guten gewinnen - einfach nicht zu übertreffen. Das erklärt auch die radikale Konvertitenszene, die aus den meisten Betrachtungen völlig ausgeblendet wird: Roy sagte schon vor Jahren, dass die Extremisten aus dem gleichen Pool fischen, aus dem früher der Linksextremismus seine Anhänger rekrutierte. Wer hat denn heute den Antiimperialismus, den Kampf gegen die USA, gepachtet?

So ernst das Problem zu nehmen ist, auch die Behauptung, dass alle Jugendlichen, die in den Jihad ziehen und überleben, als radikalisierte Zeitbomben zurückkehren, ist zu hinterfragen. Der 20-Jährige, der gerade in Frankfurt vor Gericht steht, jedenfalls nicht: Er kam zurück, weil er einsah, einen Riesenfehler gemacht zu haben. Aber da ist er eben schon wieder, der unterschwellige kulturelle Rassismus: Der radikale Islam ist eine unheilbare Krankheit (anders als etwa das Nazitum). Und für die Gesellschaft ist das bei aller Beunruhigung beruhigend: Denn es sind ja nur "die anderen". (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 19.9.2014)