Das Gymnasium muss bleiben, lautet das Mantra der ÖVP, welches seit Jahrzehnten die überfällige Bildungsreform blockiert. Ein unlösbares Dilemma? Oder ist auch hier, im Rahmen des Mitterlehner-Neustarts, ein Umdenken möglich? Das altehrwürdige Gymnasium ist tatsächlich erhaltenswert, inklusive Latein und klassischer Bildung. Aber muss es unbedingt schon bei den Zehnjährigen beginnen?

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dann hat der jüngste OECD-Bericht "Education at a glance" schwarz auf weiß nachgewiesen, was Experten von jeher sagen: In Österreich ist Bildung erblich, wer keine akademisch gebildeten Eltern hat, schafft es so gut wie nie an die Hochschulen. Das Resultat: Österreich liegt in Sachen Bildungsmobilität unter 23 Staaten auf dem beschämenden Platz 21. Jeder, der mit Kindern zu tun hat, kann das nachvollziehen. Ein zehnjähriges Kind ohne bildungsaffine Eltern ist im Gymnasium hoffnungslos verloren.

Wo ist dein Matheheft?", fragt die Gymnasiastenmama den Erstklässler. "Was habt ihr als Hausaufgabe auf? Wann ist Englischschularbeit? Komm, wir wiederholen Vokabeln." Ohne diese Unterstützung geht es nicht. Dann gehen die Zehnjährigen lieber Fußball spielen. Aber vier Jahre später sieht es schon anders aus. Eine begabte und ehrgeizige Vierzehnjährige kann sich schon selbst um ihr Schulfortkommen kümmern. Sie kann mit Gleichaltrigen lernen, Bücher ausleihen, sich im Bedarfsfall auch selbst umschauen, wo es Gratisnachhilfe gibt. Leicht ist eine erfolgreiche Schulkarriere für Jugendliche aus bildungsfernen Familien auch dann nicht, aber wirklich gute Schüler und Schülerinnen können es schaffen. Viele, viele Begabungen könnten erhalten und entwickelt werden.

Die bürgerliche ÖVP-Klientel, heißt es, wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die "Einheitsschule" für Zehn- bis Vierzehnjährige. Aber stimmt das? Natürlich wollen alle Eltern für ihre Kinder das Beste. Der städtische Mittelstand weiß, dass die Hauptschule und auch ihre aufgemotzte Schwester, die Neue Mittelschule, entgegen aller Schönrederei eine Sackgasse ist, und tut alles, um seine Kinder ins Gymnasium zu bringen.

Das Gymnasium ist der erste Schritt zu höherer Bildung, zu Aufstieg und Wohlstand. Wer diese erste Stufe versäumt, kann sie später nur schwer nachholen. Aber wenn sich dieser erste Schritt einfach um ein paar Jahre verschiebt? Wenn der Weg ins Gymnasium weiterhin offen ist, hätten viele gebildete Eltern möglicherweise nichts dagegen, dass privilegierte und nichtprivilegierte Kinder noch ein wenig länger zusammen die Schulbank drücken.

Mit der Umbildung der ÖVP-Spitze sieht es so aus, als sei die Betonfraktion ein wenig zurückgedrängt und als hätte das liberalere Element an Einfluss gewonnen. Das weckt die Hoffnung, dass auch an der unselig blockierten Bildungsfront ein Neubeginn gelingen könnte. Ein Wirtschaftsmensch wie Mitterlehner weiß vermutlich, dass gerade in den Migrantenfamilien ein gewaltiges Begabungs- und Bildungspotenzial versteckt ist, das die österreichische Wirtschaft dringend braucht. Man müsste es nur aktivieren. (Barbara Coudenhove-Kalergi, DER STANDARD, 18.9.2014)