STANDARD: Gemma Bovery ist eine zeitgenössische Version von Flauberts Heldin, Emma Bovary - wie betrachten Sie das Verhältnis von Emma zu Gemma?
Arterton: Ich habe Gemma Bovary durchaus als moderne Inkarnation von Madame Bovary gesehen. Sie existiert in vielen Frauen als eine Art Archetyp. Auf jeden Fall kann ich mich mit ihr identifizieren. Ich kenne viele Frauen, die nach etwas suchen und das Gefühl haben, sie finden es nie. Gelangweilt vom Leben, aber nicht unglücklich.
STANDARD: Gefangen in der Eintönigkeit?
Arterton: Ja, aber mit Sinn für "joie de vivre". Gemma ist gelangweilt, aber nicht langweilig. Es gibt Banales an ihr, aber auch Außergewöhnliches. Sie ist interessant. Als ich Madame Bovary für den Film gelesen haben - es war das erste Mal -, half mir das Buch für die Rolle mehr als Posy Simmonds' Vorlage. Die Graphic Novel funktioniert besser als Storyboard. Um jedoch die Figur zu verstehen, die Psychologie und das Milieu, ist Flaubert das größere Geschenk. Beim Spielen hat es sich immer etwas mehr wie Emma als wie Gemma angefühlt. Flaubert bleibt im Film immer gegenwärtig. Emma lebt im Kopf des Bäckers Martin, den Fabrice Luchini spielt.
STANDARD: Es gibt allerdings einen Moment im Film, wo Gemma klar sagt, sie sei nicht Emma Bovary ...
Arterton: Ja, aber ein bisschen bereut sie das auch. Sie weiß, dass sie keine literarische Heldin ist, nicht so herausragend. Ironischerweise ist sie es aber doch, weil sie ja die Heldin eines Films ist. Dieser Moment der Fantasie, der Wunsch, in einer alternativen Welt zu sein, spielt eine wichtige Rolle. Das ist das Thema des Films: dass man nicht fähig ist, in der Realität zu leben.
STANDARD: Wie verhält es sich mit Gemmas sinnlicher Wahrnehmung? Es ist beeindruckend, wie sie Brot isst.
Arterton: Sie ist wie ein Schwamm. Die Dinge können sie einnehmen. Sie lässt sich beeindrucken, will bewegt werden. Sie benötigt ein Maximum an Sensation. Aber selbst wenn sie am sensationellsten Ort der Welt wäre, würde sie sich nach anderem umsehen.
STANDARD: Flaubert sagt von Emma, sie habe ein künstlerisches Gemüt. Haben Sie das in Gemma auch gesehen?
Arterton: Ich glaube durchaus, dass Künstler oft nicht entspannen können. Sie vermögen den Moment nicht zu genießen. Ich kenne das an mir selbst, dass ich in bestimmten, dramatischen Momenten eher denke: "Oh, es ist wie in einem Film!" Und dann möchte man die Gefühle konservieren, sodass man sie wieder abrufen kann. Man nimmt den Moment damit nicht als das wahr, was er wirklich ist.
STANDARD: Nach "Tamara Drewe" ist das schon die zweite Posy-Simmonds-Figur, die Sie spielen. Zufall?
Arterton: Ja, ich hoffte sehr, es würde sie nicht stören! Gemma liegt mir noch näher als Tamara damals. Es gibt Ähnlichkeiten, aber es ist doch ein völlig anderer Film geworden. Die Sprache, der Tonfall sind ganz anders. Der Humor, das Milieu sind vergleichbar. Und dann noch die Sache mit den gleichen Namen: viele Zufälle!
STANDARD: Sie haben an der Royal Academy of Dramatic Art studiert, waren Bond-Girl, dann in Hollywood. "Gemma Bovery" ist nun Ihre erste französische Produktion. Eine neue Welt?
Arterton: Ich habe intuitiv danach gesucht. Und ich wollte Französisch lernen. Es war eine Herausforderung, aber ich habe es ungemein genossen. Ich war sehr nervös, was die Zusammenarbeit mit Fabrice Luchini anbelangt. Er spricht überhaupt kein Englisch - am Ende hat aber genau das unserem Verhältnis geholfen: Er wollte mich mit seinen Worten beeindrucken, so wie er das normalerweise tut, aber ich habe es nicht verstanden. Auch im Film gibt es diese fehlende Verbindung zwischen den Figuren, weil sie sich nicht genug verstehen. Sie haben diese Fake-Beziehung: Er denkt, sie flirtet, das tut sie aber gar nicht, sie will ihn nur verstehen ...
STANDARD: Das Bild, das der Film vom ländlichen Frankreich entwirft, wirkt etwas übertrieben idyllisch, finden Sie nicht?
Arterton: Es sieht wirklich fast so aus. Wir haben in einem Dorf in der Normandie gedreht, da gibt es noch diese kleine Bäckerei - Briten fahren da besonders gerne hin.
STANDARD: Kaufen sie dort nicht ein touristisches Bild?
Arterton: Vielleicht, aber sie lieben das. In der Bretagne habe ich ein Paar aus London kennengelernt, sie Künstlerin, er Musiker; sie sind da hingezogen, weil sie sich England nicht mehr leisten konnten. Sie haben ein altes Haus renoviert, sie hat gemalt, er den ganzen Tag Zigaretten geraucht. Das perfekte Klischee. Posy Simmonds ist immer sehr korrekt in ihren sozialen Beobachtungen. Ein wenig erhöht wird es schon sein, aber sie spielt mit Stereotypen. Es ist ja befriedigend, Leute zu beobachten, in denen man sich auch wiedererkennen kann.
STANDARD: Zurück zu Ihnen: Sie haben unlängst gesagt, dass Sie keine Großproduktionen mehr interessierten. Was war in Hollywood so unbefriedigend?
Arterton: Ich hab es probiert und herausgefunden, es ist nichts für mich. Ich fühlte mich etwas verloren. Es ist zu groß, zu teuer - das verändert alles. Es gibt immer Hierarchien beim Film, aber bei diesen Produktionen fühlte es sich ausdrücklicher an. Viele wichtige Leute wie den Cutter bekommt man nie zu Gesicht - nicht einmal den Setdesigner! Ich komme vom Theater, ich schätze es, jeden namentlich zu kennen. Jetzt mache ich kleinere Produktionen, und ich spiele auch wieder Theater, meine Leidenschaft.
STANDARD: Sie haben auch eine Produktionsfirma gegründet, um Projekte mit weiblichen Figuren zu entwickeln.
Arterton: Es gibt einfach zu wenig interessante Rollen für Frauen. Das liegt daran, dass es zu wenig Autorinnen gibt - solche, die es auch ins Kino schaffen. Meine Koproduzenten und ich - wir sind alle Frauen - wollten dahingehend was unternehmen, momentan sind wir ganz aufs Kino ausgerichtet. Als Schauspieler wartet man immer auf Drehbücher, und bis man sie gelesen hat, gibt es sie meistens schon zehn Jahre. Du bist als Letzter dran - ich bin aber gerne von Anfang an dabei.
STANDARD: Sie haben gesagt, Björk in "Dancer in the Dark" habe Sie zum Schauspiel bekehrt - eine interessante Wahl, wo sie doch so leidet ...
Arterton: Sie können nicht leugnen, dass sie eine großartige Darstellung liefert! Vielleicht muss man einmal im Leben eine Rolle spielen, in der man richtig leidet.
STANDARD: Würden Sie denn gern mit Lars von Trier leiden?
Arterton: Ja, unbedingt. Ich weiß, jeder würde sagen: "Mach es nicht!" Aber ich verehre seine Arbeit enorm. Er ist ein Genie. Nymphomaniac war übrigens mein Favorit. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 18.9.2014)