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Im Freien an einer digitalen Lehrveranstaltung teilnehmen: Online-Vorlesungen könnten nicht nur den Studierenden mehr Flexibilität verschaffen. Sie könnten auch dazu beitragen, die Bildungssituation in Westafrika zu verbessern.

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Karl Aberer: Online-Kurse für eine effizientere Lehre.

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STANDARD: Warum sollten die Universitäten Vorlesungen und Übungen im Internet anbieten?

Aberer: Universitäten sind sehr konservative Institutionen. Wie die Lehre geliefert wird, unterscheidet sich kaum von dem, was vor 500 Jahren passierte: ein Saal, vorne trägt jemand vor. Die digitalen Lehrveranstaltungen der Massive Open Online Courses (Moocs) lassen dagegen mehr Zeit für praktische Arbeit und Diskussionen.

STANDARD: Wie ist die Idee entstanden?

Aberer: Es gibt verschiedene Motivationen. Ursprünglich ging es den Unis um mehr Sichtbarkeit. Wenn 100.000 Studierende an einem Mooc teilnehmen, ist das gut fürs Image. Dann kam in den USA die Diskussion auf, ob Moocs helfen könnten, die hohen Studienkosten zu senken. Dadurch entsteht ein neuer Konkurrenzkampf. Laut aktueller Studie des Massachusetts Institute of Technology ist anzunehmen, dass in den nächsten zehn Jahren 30 Prozent der US-Unis verschwinden. Warum sollten Studierende Gebühren in drittklassige Unis investieren, wenn sie dank Moocs zum selben Geld eine erstklassige Ausbildung bekommen können?

STANDARD: Welche Überlegungen spielen in Europa eine Rolle?

Aberer: Auch in Europa müssen sich die Universitäten, die öffentlich finanziert werden, überlegen, was sie anbieten. Es besteht das Risiko, dass Moocs von der Politik nur als Mittel wahrgenommen werden, um Lehrstühle einzusparen. Die Mission der Universitäten wird sich also verändern und entwickeln müssen. Bei uns an der EPF Lausanne ist eine Motivation, über Moocs die Bildungssituation in Entwicklungs- und Schwellenländern, insbesondere in Afrika, zu verbessern. Langfristig sollte das zur Entwicklung der Länder und zur Entschärfung der Migrationsthematik beitragen. Eine andere Zielgruppe ist im Bereich des lebenslangen Lernens zu finden. Die Trennung von Ausbildung und Arbeit löst sich auf, das Wissen entwickelt sich zu schnell. Europa muss aufpassen, dass der Bereich der Moocs nicht komplett von den USA dominiert wird.

STANDARD: Besteht bei Moocs, die in Europa für Entwicklungsländer gestaltet werden, nicht die Gefahr eines neuen Wissenskolonialismus?

Aberer: Wir sind uns der Gefahr bewusst. Wir arbeiten in einem Netzwerk von Universitäten, die zu mehr als der Hälfte aus Westafrika kommen. Wir involvieren Verwaltungen, Lehrende und Studierende dieser Universitäten.

STANDARD: Wie sehen Moocs im Detail aus?

Aberer: Sie bestehen aus kurzen Erklärvideos von fünf bis zehn Minuten Länge. Danach werden Fragen gestellt, etwa per Multiple-Choice-Test. Mehrere Videos mit Tests ergeben eine Lehreinheit. Dann gibt es schwierigere Übungen, mit denen die Studierenden den Großteil der Zeit verbringen.

STANDARD: Wer korrigiert die Übungen?

Aberer: Zum einen gibt es eine automatische Kontrolle, die gut funktioniert, wenn in der Übung etwa ein Computerprogramm erstellt werden muss. Zum anderen ist Peer Grading wichtig. Hier sind es mehrere weitere Studierende, die die Übung eines Kollegen bewerten. Fehlerhafte Beurteilungen werden herausgefiltert. Man lernt von den Fehlern anderer.

STANDARD: Wie entlarvt man Schummler?

Aberer: Man kann davon ausgehen, dass etwa 20 Prozent der Lösungen kopiert sind. Solange es keine Zertifizierung gibt, ist das kein Problem. Für zertifizierte Kurse gibt es andere Prüfungen, etwa mit Überwachung per Webcam und typischer Muster bei der Tastatureingabe. Bei Moocs, die wir an der EPFL unseren Studierenden anbieten, machen wir normale Prüfungen an der Uni.

STANDARD: Was ändert sich für die Professoren?

Aberer: Bisher fand die Lehre eher im Verborgenen statt. Sie war für die Karriere, im Gegensatz zur Forschung, nicht sehr bedeutsam. Das ändert sich mit Moocs fundamental. Lehrende, die global sichtbar sind, sind auch motiviert. Wie sehr man wahrgenommen wird, der Impact in der Lehre, wird eine große Rolle spielen.

STANDARD: Wäre mehr Personal nicht eine bessere Investition, um die Qualität der Lehre zu erhöhen?

Aberer: Schätzungen zufolge kostet ein Mooc im Schnitt 100.000 Euro. Mit Gehältern kostet ein normaler Kurs ähnlich viel. Ein Professor, der weiß, dass sich 100.000 Studierende sein Video ansehen, die jeden kleinen Fehler gnadenlos aufdecken, wird zudem dafür sorgen, dass die Qualität top ist.

STANDARD: Ist der Wegfall des persönlichen Kontakts nicht ein Verlust?

Aberer: Vielleicht gibt es künftig sogar mehr Kontakt, weil die Lehrenden ihre Zeit nicht damit verbringen, ihre Vorträge zu reproduzieren. Persönlicher Kontakt mit Forschern, mit anderen Studenten, das Bilden von Netzwerken, Projektarbeiten - das passiert weiterhin am Campus.

STANDARD: In Österreich laufen Fächer wie Publizistik Gefahr, überrannt zu werden. Können Moocs abhelfen?

Aberer: Ich glaube nicht, dass das der richtige Ansatz ist. Zu viele Absolventen sorgen für Probleme am Arbeitsmarkt. Zulassungsbeschränkungen sind sinnvoller.

STANDARD: Werden Moocs in 20 Jahren in Europa selbstverständlich sein?

Aberer: Wenn es noch 20 Jahre dauert, können wir die Unis vergessen. Die einzelnen Länder haben unterschiedlich auf die Entwicklung reagiert. Frankreich und die Niederlande sind stark engagiert. Überraschend wenig passierte in den nordischen Ländern. Österreich ist auch fast abwesend. Im Moment gibt es zwei große Player: das nicht gewinnorientierte edX und das kommerzielle Coursera. Diese Plattformen - beide kommen aus den USA - haben das größte Angebot. In der Schweiz sind inzwischen fünf der 12 Unis auf einer oder beiden Plattformen präsent. In Österreich noch keine einzige. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 17.9.2014)