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Der Universitätsdozent Ilham Tohti hat laut chinesischen Behörden Uiguren zu Gewalt angestiftet.

Foto: AP/Wong

Das Mittlere Volksgericht in Xinjiangs Metropole Ürümqi war so weiträumig abgesperrt, dass die aus Peking zum spektakulären Prozess gegen den Wirtschaftsdozenten Ilham Tohti angereisten Diplomaten nicht einmal das Gebäude sehen konnten. Sie dürften als Beobachter an dem "öffentlichen Prozess" nicht teilnehmen, so sagten ihnen Regierungsbeamte, weil sie keine Anträge an Gericht und Außenministerium gestellt hätten. Als die Vertreter von neun westlichen Botschaften, der USA, der EU, von Deutschland bis Schweden protestierten, sie hätten diese Anträge sehr wohl gestellt, bekamen sie zur Antwort: aber nicht in der richtigen Reihenfolge.

Chinas Behörden war jedes Argument recht, um internationale Beobachter nicht zu dem am Mittwoch begonnenen Prozess gegen den uigurischen Bürgerrechtler und friedfertigen Kritiker der chinesischen Minderheitenpolitik zuzulassen. Ihre Anklage wegen Subversion und Separatismus wiegt besonders schwer vor dem Hintergrund blutiger, ethnisch motivierter Gewalt- und Terrortaten in der islamisch geprägten Nordwestregion. Peking hat 2014 zum "Jahr der Bekämpfung und von Chinas Krieg gegen den Terrorismus" erklärt. Nun soll es Tohti zu spüren bekommen.

"Kein ethisches Problem"

Die autonome Region Xinjiang mit ihren 22 Millionen Einwohnern gilt wegen ihrer Konflikte zwischen den einheimischen muslimischen Nationalitäten und den dominierenden Han-Chinesen seit langem als Unruheherd. Das muslimische Turkvolk mit knapp zehn Millionen Uiguren fühlt sich religiös, kulturell und politisch unterdrückt und wirtschaftlich benachteiligt. Der als gemäßigter Anwalt für seine Landsleute auch international bekannte Tohti hatte viele solcher Fragen in seinen Vorlesungen und auf seiner Webseite angesprochen. Er forschte und lehrte über Struktur- und Kulturprobleme, Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsschwäche in der unterentwickelten Nordwestregion Xinjiang.

Doch Chinas Regierung nennt die Eskalation, besonders in den vergangenen eineinhalb Jahren, mit Dutzenden grausamen Attentaten kein ethnisches Problem. Sie sei das Werk von extremistischen und islamistischen Terrorgruppen, die von außen gesteuert würden und die Unabhängigkeit Xinjiangs als Republik Ostturkestan erzwingen wollten.

Drei Stunden Prozessaufnahme und Anklageverlesung

Im Jänner durchsuchten Polizisten aus Xinjiang bei einer Razzia die Wohnung Tohtis in Peking, verschleppten den 44-Jährigen und brachten ihn in eine Haftanstalt ins 2.400 Kilometer Ürümqi. Seit ihm sein Prozess angekündigt wurde, musste er Fußfesseln tragen, berichtete er seinem Anwalt Li Fangping.

Am Mittwochmorgen stand er ungefesselt und zivil gekleidet vor Gericht, schrieb sein zweiter Anwalt Liu Xiaoyuan in seinem Mikroblog. Von 10.30 Uhr bis 13.30 Uhr dauerte die Prozessaufnahme und Anklageverlesung in dem zweitägigen Verfahren, das am Nachmittag fortgesetzt wurde. Neben den Pekinger Anwälten saßen im Zuschauerraum Tohtis Ehefrau Guzaili Nuer und drei seiner Brüder, berichtete die Frau in der Mittagspause einem Reporter der französischen Nachrichtenagentur AFP. Sie sagte, dass ihr Mann sehr schwach wirkte.

"Sieben Vorwürfe"

Nach der Anklageschrift soll an Tohti ein Exempel statuiert werden. Liu schrieb, dass die Anklage auf "sieben Vorwürfe" aufgebaut sei. Beschuldigt wird Tohti demnach für Verbrechen des Separatismus. Auf sie stehen mindestens zehn Jahre Haft. Pauschal wird ihm vorgeworfen, in seinen Vorlesungen an der Minderheitenuniversität in Peking, in Interviews mit ausländischen Medien und in Artikeln auf seiner 2006 eingerichteten Webseite "Uigur Online" zu "ethnischem Hass" aufgestachelt und "subversive Inhalte" verbreitet zu haben. Er sei "Kopf einer achtköpfigen Separatistengruppe", womit offenbar mehrere seiner Forschungsstudenten gemeint sind. Sieben von ihnen sollen ebenfalls festgenommen worden sein. Tohti habe alle Vorwürfe bestritten, sagten seine Anwälte Reportern während der Mittagspause. Er habe sich immer gegen eine Abspaltung Xinjiangs und gegen jegliche Gewalthandlungen ausgesprochen.

Offene Briefe an Peking

Xinjiangs Parteiführung unterstellt Tohti, ein geistiger Unterstützer des Aufruhrs von Uiguren zu sein, die von extremistischen und islamistischen Terroristen von außen angestiftet würden. Es ist nicht das erste Mal, dass sie ihn so verfolgen. Nach der ethnischen Gewaltexplosion der Uiguren am 5. Juli 2009 in Ürümqi, als 197 Menschen, vorwiegend Han-Chinesen, starben und 1.700 verletzt wurden, warf der Gouverneur von Xinjiang dem Pekinger Dozenten vor, mit seiner Website den Aufruhr mitgeschürt zu haben. Tohti wurde damals in Peking festgenommen, durfte aber nach 50 Tagen wieder nach Hause. Prominente Schriftsteller, Studenten und Künstler hatten in offenen Briefen an die Pekinger Führung appelliert, Tohti mit seiner kritischen Website zu tolerieren: Er habe sich als "intellektueller Brückenbauer" immer um Versöhnung zwischen Han-Chinesen und Minderheiten bemüht.

Ebenso wie Tohti wurde Ende Juli 2009 der Pekinger Anwalt Xu Zhiyong, Initiator der zivilgesellschaftlichen Initiative "Gongmeng" (Offene Verfassung), in Haft genommen. Auch er kam nach wenigen Wochen wieder frei. Für ihn verwendeten sich ebenfalls namhafte Juristen und Ökonomen. Peking sah damals von weiterer Verfolgung ab.

Doch unter der neuen chinesischen Führung hat sich der Wind gedreht. Sie setzt auf Härte gegen Dissidenz jeder Art. Xu Zhiyong wurde im Juli 2013 erneut festgenommen und diesen Jänner zu vier Jahren Haft verurteilt. Und Xinjiangs Behörden durften Tohti in Peking in einer Nacht-und-Nebel-Aktion festnehmen und nach Ürümqi bringen. (Johnny Erling, derStandard.at, 17.9.2014)