"Außerdem ist es recht beruhigend, in manchem von gestern zu sein, weil so mehr Zukunft Platz hat": Weinviertler Rebhügel und Kellergassen bilden eine hervorragende Umgebung für all jene, die sich vom Zwang zum nächsten Update und von sonstigen Anforderungen des Zeitgeistes befreien wollen.

Foto: Rudolf Semotan

Jahr für Jahr, es sei denn, es regnet Schusterbuben, gönne ich mir den Radwandertag von Hadres im Pulkautal. Ich habe meine Freude an Weinviertler Rebhügeln sonder Zahl, Kellergassen, Labestellen und vor allem an der vom Totengräber – auch Obmann des Radwandervereines – überaus launig moderierten Tombola. Meist gewinne ich nützliche Dinge, oft zum reizvoll widersprüchlichen Ganzen vereint. Einmal war’s eine Sportkappe mit Nudeln und im Jahr darauf eine Thermoskanne mit Regenmesser.

Aber ich schweife ab, wende mich also unverzüglich dem Thema dieser Geschichte zu. Ich bin beharrlich mit einem alten Steyr-Waffenrad unterwegs, weil wir uns in vielen Jahren sehr aneinander gewöhnt haben. Außerdem ist es recht beruhigend, in manchem von gestern zu sein, weil so mehr Zukunft Platz hat. Neulich überholte mich, unschlüssig in zahllosen Gängen wühlend, ein papageienbunter, futuristisch behelmter Radfahrer und rief: "Sie müssen schon auch einmal mit der Zeit gehen, Herr Komarek!"

Meine präpotente Antwort, dass die Zeit gefälligst mit mir gehen solle, nahm er schon nicht mehr wahr. Und weil es der Zeit genügt, einfach da zu sein, ohne mit irgendjemandem irgendwohin zu gehen, habe ich ohnedies verzichtbaren Unsinn geredet. Dem eifrigen Strampler ging es vermutlich um Zeitgeist, Mode oder Fortschritt, darum, kein Update zu versäumen. "Heutzutage muss es ja englisch sein", würde hier Dagobert, neben Donald die zweite meiner Lieblingsenten, anmerken. "Es muss ...": Wer sagt das? Vermutlich sind das jene, die uns sagen, was "angesagt" ist oder gar "angesagtest". Warum, bitte, sollte ich mir etwas ansagen lassen, vom dem ich dann meine, es tun oder haben oder konsumieren zu müssen? Es bleibt genug zu müssen, weil es gewollt, notwendig oder als sinnvoll erkannt ist.

Aber es gibt sehr viele, die sich ohne das offenbar hilfreiche Diktat von Trendsettern, Animateuren, Marketingstrategen, Vorkostern, Vorreisenden, Vorempfindern, Vordenkern, Vorlebern, Vorglaubern, Meinungsbildnern, Lebensberatern, Coaches, Kultpredigern, Marken-Vermarktern und weiß der Teufel was noch alles (natürlich beiderlei Geschlechts) in der Welt nicht mehr zurechtfänden. Auf sich selbst zurückgeworfen, für sich selbst und für ihr Tun verantwortlich, aller Wegweiser, Hinweiser und Anweiser ledig, wäre nichts mehr als orientierungslose Ödnis und Einsamkeit um sie und in ihnen.

Wer nicht mitmacht, ist nicht dabei, und wer sich nicht sagen lässt, wohin es zu gehen hat, muss sehen, wo er bleibt. Das darf nicht geschehen. Wer demnach jeden Aspekt des Lebens in der passenden Gruppe mit den entsprechenden Inhalten aufgehoben weiß, darf sich geborgen wissen und auf Anerkennung hoffen. Facebook-Friends und Facebook-Likes bestätigen täglich, stündlich, minütlich den aktuellen Aktienkurs der aufregend bunten und bezaubernd beliebigen digitalen Existenz. Wer solches nicht vorzuweisen hat, muss eben als Außen seiter mit einem Leben jenseits
der Wahrnehmungsgröße vorliebnehmen.

Hilfe, Rat und Rettung

Doch halt: Auch für diese vom Aussterben bedrohte Gattung gibt es Hilfe, Rat und Rettung. Längst erfahren auch jene verdächtigen Gestalten, die abseits des Mainstreams abwegig unterwegs sind, fürsorgliche Vorsorge, dürfen sich mit alternativer Kleidung, alternativen Nahrungsmitteln und anderem Konsumgut für Konsumverächter unter Gleichgesinnten in der ihnen zugewiesenen Markt nische geborgen fühlen. Sie müssen es geradezu. Neuerdings tut sich sogar für jene, die auf Lifstyle wie auch aufs Gegenteil pfeifen, eine trendgerechte Heimat auf: Normalität ist – ja, wie sag ich’s denn? – angesagt. Von allen Mühen der Selbstdarstellung befreit, darf (muss!) der Mensch entspannter Spießigkeit frönen, mausgraue Mode von der Stange tragen, mit anderen normalen Menschen ganz normal umgehen und froh sein, dass er einigermaßen gesund und so halbwegs bei Sinnen ist.

"Normcore" nennt man das, und die Nähe zu "Hardcore" kommt nicht ganz von ungefähr. Schon erklären Trendsetter die Mittel mäßigkeit zum Lustobjekt. Hollywoodstars fallen damit unauffällig auf, der Chefredakteur von Le Monde tat einen Twitterer zum Thema, und Modekollektionen gibt es auch schon. Bald wird "Normcore" zu den "Dos" zählen, endlich zu den "Musts" und dann wieder zu den "Don’ts". Alles ganz normal.

Und warum spielen da so viele, ohne viel nachzudenken, mit? Weil anregend verpackte Entmündigung und marktgerechte Manipulation schnell satt machen und vorübergehend ein ganz klein wenig glücklich (siehe: "fun"). Das verfliegt natürlich rasch, die Dosis muss erhöht werden. Aber letztlich entwertet das Übermaß. Was soll’s, es wird sich schon was Neues finden. "Die ärgsten Feinde der Freiheit sind die glücklichen Sklaven", steht bei Marie von Ebner-Eschenbach nachzulesen. Und diese Sklaven denken nicht daran, ihr Gefängnis zu verlassen, auch wenn alle Fenster und Türen weit offen stehen.

Im Übrigen gibt es sogar Zwänge, die trotz angewandter Unterwürfigkeit nicht einmal sättigen, sondern Übelkeit hervorrufen und schon gar kein Glück mit sich bringen, aber Belästigung. Geduldet werden sie eigentlich nur, weil man/frau sich im Gefängnisalltag daran gewöhnt hat. Hintergrundmusik zum Beispiel muss gehört werden, auch wenn sie keiner hören will. Es gilt nämlich einen Erzfeind zu bekämpfen, die Stille, ein dämonisches Ungeheuer in den Ohren der Stimmungsmacher, Übertöner und Betäuber, jedenfalls ein Übungsobjekt für fachgerechte Erniedrigung und billige Entsorgung. Ist die Stille dann tot, wird sie mit aufdringlicher Akustik zu Grabe getragen. Das Schlimme dar an: Es geht uns mit der synthetisch übertönten Stille wie mit künstlichen Geschmacksverstärkern. Wer sich lange genug damit beleidigen lässt, glaubt irgendwann, es müsse so sein.

In Tirol war mir einmal nach leiser Waldeslust hoch über dem Tal. Ich stieg also unverdrossen bergwärts und erreichte eine Burgruine. Der Wald stand still, und nur ein paar Vögel tupften ihre Stimmen ins dunkle Schweigen. Dann kam der Wirt der Burgtaverne, sperrte das Tor auf, lauschte erst nachdenklich, dann irritiert und griff mit erlösender Gebärde zum Radio: Endlich sangen die Original Hinteren Oberzipfdodeln, und die Welt war auch im Wald wieder in Ordnung.

Als reicher Sack besitze ich einen geräumigen Lösskeller im Weinviertel, eine sanfte Höhle, in der die Stille so machtvoll und umfassend ist, dass sie es gerade noch gestattet, den eigenen Atem zu hören. Immer wieder kommt es vor, dass Besucher, denen ich dieses Wunder gönnen möchte, ratlos innehalten und es dann nicht mehr aushalten in einer Unterwelt, die tief nach innen dringt und vieles hervorholt, was vergessen, verdrängt, verleugnet war. Dann eilen sie hastig stadtwärts, um zu chillen. Das fällt unter "Freizeitbewältigung": stelle ich mir ziemlich mühsam vor.

Jetzt muss ich aber schon etwas ergänzend richtigstellen. Zwar bin ich evolutionär auf der Stufe des Höhlenmenschen, Jägers und Sammlers hängengeblieben, fröne aber im Gegensatz dazu hemmungslos meinem Spieltrieb und meiner Neugier. Ich war schon im Netz unterwegs, als es das Internet für alle noch nicht gab, meine erste elektronische Schreibmaschine hatte ein Display für 36 Buchstaben, war auf Thermopapier angewiesen und natürlich nach sehr kurzer Zeit veraltet, ein Radiogerät mit Touchscreen hatte ich schon in den Neunzigern.

Das Smartphone zählt hingegen zu jenen Foltergeräten, auf die ich nur zu gerne verzichte, aber ich besitze eine sehr alte Taschenuhr mit eingebautem Barometer und einen frühen Vorgänger des Radioweckers: eine Standuhr, die ein Grammophon betätigt. So ist es eben mit uns störrisch Selbstbestimmten, die vieles möchten, auch Unvernünftiges, auch Modisches, aber uns nichts einreden lassen. Irgendwie geht es einfach immer um Lebensfreude, um den lustvollen Umgang mit sich selbst und mit Menschen, die es wert sind.

Aber wir sind nicht mehr viele. Das muss sich ändern. Muss? Au, verdammt. (Alfred Komarek, Album, DER STANDARD, 13./14.9.2014)