Abmarsch in die Zelle: Eine der Vorlieben von Vivian Maier war es, ihre Kamera auf jene Geschehnisse des Stadtlebens zu richten, die einen Riss in der öffentlichen Ordnung darstellten.

Foto: Polyfilm

Wien - Wie ein Nazi, mit rudernden Armen und im Stechschritt, sei sie herummarschiert. Auffällig hoch gewachsen war sie für eine Frau, oft in (Männer-)Kleidung und mit Hut unterwegs. Gesprochen habe sie mit französischem Akzent, obwohl in New York geboren. Ihren Namen, Vivian Maier, habe sie in allen erdenklichen Varianten geschrieben - und wenn sie gar keinen nennen wollte, unterschrieb sie mit V. Smith.

Rätsel und Geheimnisse umgeben diese Frau somit viele. Das bestgehütete war jedoch ihre Leidenschaft für Fotografie. Als Vivian Maier 2009 verstarb, hinterließ sie mehr als 100.000 Negative, die sie oft während ihrer Arbeit als Kindermädchen angefertigt hatte. Bilder vom Leben in den Städten der USA, Momentaufnahmen aus zwielichtigen Vierteln, Porträts, schöne Details des Alltags - aufgenommen mit einer Rolleiflex-Kamera, die sie immer mittrug.

Vivian Maiers Werk, darüber herrscht unter Experten wie Allan Sekula mehr und mehr Einigkeit, steht auf einer Stufe mit den größten US-Fotografen des 20. Jahrhunderts - mit Künstlerinnen und Künstlern der "street photography" wie Robert Frank, Diane Arbus oder Helen Levitt. Veröffentlicht hat Maier zu Lebzeiten nichts. Zwei Jahre vor ihrem Tod ersteigerten John Maloof und zwei andere Sammler Teile ihres Werks. Aufmerksamkeit weckte Maloof damit allerdings erst im Oktober 2009, als er Fotos auf Flickr stellte. Seitdem wuchs sich die Entdeckung Maiers zu einer jener Geschichten aus, die man in der bildergesättigten Gegenwart gar nicht mehr für möglich hält.

Der Dokumentarfilm Finding Vivian Maier, den Maloof mit Charlie Siskel realisiert hat, behandelt ihren Fall nun aus der Perspektive von Menschen, die Maier gekannt haben - vornehmlich der Kinder, auf die sie aufgepasst hat. Das Mysterium zu lüften, das vermag auch er nur bedingt. Denn notorisch um die Aufrechterhaltung ihrer Privatsphäre bemüht, blieb Maier genauso ihren Schützlingen gegenüber. Vor ihrem Zimmer hing stets ein dickes Schloss.

Dem Film gelingt es, die Faszination für diese exzentrische Person hinter den Bildern zu wecken, auch wenn er sich dafür recht konventioneller Mittel (Interviewmontagen, Maiers Filmaufnahmen bleiben eher illustrativ) bedient. Maiers gesellschaftliche Umrisse werden allmählich deutlicher: Erstaunlich fortschrittlich war sie für ihre Zeit, ganz bewusst hat sie sich für ihre Profession entschieden. Als Kindermädchen verbrachte sie viel Zeit im Freien, die Kinder schleppte sie auf langen Fototouren in schäbige Viertel mit. Maier hegte eine Vorliebe für Ränder der Gesellschaft, das Unmoralische, Anstößige zog sie an. Dies führt zu einer ambivalenteren Seite der Fotografin, die den Kindern gegenüber selbst unduldsam, garstig agieren konnte.

Das letzte Puzzlestück, nämlich warum sie nie den Weg in die Öffentlichkeit suchte, bleibt unaufgedeckt. Vielleicht war es Vivian Maier, dieser so isoliert lebenden Frau, ja einfach genug, sich selbst ein Bild von der Welt zu machen. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 13.9.2014)