Tanzen auf dem Vulkan - das haben die Isländer gelernt: Die einen vollführen den Wiegeschritt. Die anderen setzen stattdessen zum Fersenheber an, beginnen zu kreisen und entziehen sich schließlich durch Hüpfen einer Umarmung. Schafs-Polka könnte man den Tanz nennen, denn die eine Hälfte der Tanzpaare sind tatsächlich Schafe, die andere sind Schafwollpullover-Träger. Dargeboten wird das Ganze in einem Réttir, einem Pferch, der im Norden Islands an einem Fjord, in Midfjördur steht.

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Der isländische Vulkan Bardarbunga in Aktion.
Foto: REUTERS/Armann Hoskuldsson

Wie in den meisten isländischen Gemeinden werden auch hier von September bis Anfang Oktober freilaufende Schafe von den Sommerweiden im Hochland herunter in die Täler getrieben und nach Besitzern aussortiert. Ob dabei ein Vulkan wie der gut 200 Kilometer entfernte Bardarbunga rumourt, kümmert die Menschen von Midfjördur nicht - zu weit weg, zu normal auf Island.

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Mehr als eine halbe Million Schafe gibt es auf Island. Von September bis Anfang Oktober werden sie von den sattgrünen Weiden im Hochland durch Sandwüsten und erstarrte Lavafelder in die Täler getrieben.
Foto: REUTERS/ Ingolfur Juliusson

Jeder Bauer findet seine Tiere durch Markierungen am Ohr wieder. Freiwillig lassen sich die Schafe jedoch nicht danach absuchen. Deshalb schwingt sich immer ein Helfer über das Tier, packt es an den Hörnern und führt mit ihm ein Tänzchen auf. Während dieser Sortier-Aktion ist überraschend viel Deutsch auf dem Platz zu hören. Islandfans aus allen Regionen Europas verbringen ihren Urlaub damit, den isländischen Bauern beim Schafabtrieb zu helfen. Sie sind nach ihrer Ankunft in Reykjavík 200 Kilometer die Westküste entlanggefahren, bis kein Handynetz sie mehr fangen konnte und warten nun auf neu eintreffende Tanzpartner.

Selbstverständlich bio

Seit vier Tagen sind die Treiberkolonnen in Midfjördur unterwegs, um die Schafgruppen aufzuspüren. Den Sommer über leben die Schafe in den Grenzen gemeinschaftlich genutzter Weiden, fressen dort bestes Gras und atmen reine Luft. "Bei euch nennt man das Bio-Haltung, in Island ist es seit Jahrhunderten eine Selbstverständlichkeit", sagt der alte Fridjof. Solange alle auf das Eintreffen neuer Schafe warten, ist der stämmige Isländer, der gegen die Holzlatten des Pferches lehnt wie Kapitän Ahab in einer Sturmböe, geschwätzig wie jemand nach drei Monaten Einzelhaft.

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Islandpferde: Keine andere Pferderasse auf Welt sei so intelligent, mutig, folgsam und verlässlich, schwärmt Fridjof.

Nicht die Schafe sind sein Thema, Fridjof schwärmt von den Pferden mit den feschen Fransenfrisuren, die man auf keinen Fall Ponys nennen darf. Keine andere Pferderasse auf der Welt sei so intelligent, mutig, folgsam und verlässlich wie die Isländer. Weder Sturm und Schnee noch Fels und Eis können ihm etwas anhaben. "Wolkenpferde" flüstert Fridjof, als gäbe er den geheimen Namen eines mythischen Wesens preis. "Wir nennen sie so, weil sie oft aus den nebelverhangenen Höhen Islands hervortreten, als ob sie direkt aus den Wolken kämen."

Wie ein nachkolorierter Schwarzweißfilm

Jetzt aber erscheint erst einmal die nächste Schafherde am Horizont, und Fridjof taucht ab. Genug geredet. Schon am Morgen sah der Himmel über Midfjördur aus wie auf Gaugins Südseebildern. In pinken und bernsteinfarbenen Streifen ging die Sonne auf. Dann legte sich ein grauer Filter über das Tal. Nun erscheinen die Farben noch unwirklicher als zuvor: Spülmittelgrün, Hustensaftbraun und Knallblau - wie ein nachkolorierter Schwarzweißfilm sieht Island aus. Und die Schäfchen spielen mit einer Kuppe aus schwarzem Vulkangestein und den geröteten Gesichtern der Treiber Komplementärkontrast.

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Weites Land: Rund 520.000 Schafe teilen sich die Insel mit 320.000 Isländern und mit mindestens so vielen Trollen, denn jeder Isländer verfügt über seinen höchstpersönlichen Hausgeist.
Foto: REUTERS/Sigtryggur Johannsson

Es ist kalt, es regnet und ein strähniger Wind fährt unter die Jacke, aber mit jedem Meter klettert der Adrenalinpegel höher. Yogatechniken zur Entfachung innerer Hitze sind hier nicht gefragt. In Island reicht die Kraft des Lichts, um einen wärmenden Rausch auszulösen. Der Blutdruck steigt, der Puls wird kräftiger, der Atem geht tiefer und die Konzentrationsfähigkeit erreicht die Schärfe von Rasierklingen. Weitere Stimulanzien sind Steinwüsten, Vulkane, Gletscher und ein tiefer gelegter Horizont, der selbst die kleinsten Hügel in mächtige Berge verwandelt. In allen Richtungen und soweit das Auge reicht: Island. Eben noch eisig und still, dann wieder blubbernd und brodelnd.

Hitzige Charaktere

Die Insel ist wie ein schöpferischer Gegenentwurf zur Karibik. Dort flimmernde Hitze und triefender Schweiß, hier naturtrüber Charme und kühle Klarheit. Das Temperament der Isländer ist dem der Kariben aber durchaus ebenbürtig. Rund dreißig aktive Vulkane haben den hitzigen Charakter der Menschen ebenso geprägt wie ihre prekäre Lage auf zwei Kontinentalplatten. Island liegt auf dem Mittelatlantischen Rücken. Wie eine Narbe geht der diagonale Riss zwischen der Nordamerikanischen und der Eurasischen Platte durch die Insel. Drei bis vier Zentimeter driftet Island an diesem Spalt pro Jahr auseinander. Wer mit solchen Naturgewalten lebt, kostet die Tage aus und verschiebt nichts auf morgen.

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Zischen und blubbern: Rund dreißig aktive Vulkane haben den hitzigen Charakter der Menschen ebenso geprägt wie ihre prekäre Lage auf zwei Kontinentalplatten.

Die Schafe haben unter dieser permanenten Unruhe sogar zu einer buddhistischen Gelassenheit gefunden. Sie wissen: Es gibt kein Entkommen. Haben die Treiber sie erst einmal zwischen spitzen Felsen und rauen Lavafeldern entdeckt, stehen sie still wie in Harz gegossen. Und die Island-Cowboys wissen genau, wie man sie nun in die richtige Richtung, die Berghänge hinunter und durch Flüsse treibt. Schäfchen-Flüsterer sind sie allerdings nicht. Sie brüllen, klatschen und rudern mit den Armen, werden beim Treiben von einem Trupp Bordercollies unterstützt.

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Schwarzer Sand von Santa Cruz? Nein, Island!

Rund 520.000 Schafe teilen sich die Insel mit 320.000 Isländern und mit mindestens so vielen Trollen, denn jeder Isländer verfügt über seinen höchstpersönlichen Hausgeist. Die sind zuständig für mysteriöse Glücksfälle, aber auch für unerklärliches Missgeschick, und wahrscheinlich auch schuld daran, dass einige Schäfchen plötzlich ihren Herdentrieb ignorieren. Sie wollen nicht ins Trockene gebracht werden und brechen aus, als es kurz vor Erreichen des Pferches über eine Brücke gehen soll.

Ausdauer und Humor

Isländische Sagenhelden müssen Haudegen, Trinker und Dichter in einem sein. Bei isländischen Schäfchen-Fängern reicht Sattelfestigkeit, Ausdauer und Humor. Während ihnen der Regen auf den Rücken klopft wie ein ungeduldiger Geldeintreiber, büchsen ihnen die Schafe dreimal aus. Dann endlich ergießt sich die wollige Flut in den Réttir und staut sich zum einem See aus Schafen.

Wenn am Abend alle heimgekehrt sind, beginnt im Gemeindehaus von Midfjördur der Réttir-Ball: Zu Rock- und Country-Klängen wird dann getanzt. Diesmal harmonischer und frei von der Gefahr, blaue Flecken davonzutragen. Und wenn einen das Sandmännchen später trotz aller Anstrengungen des Tages im Stich lässt, stehen genügend Schäfchen zum Zählen bereit. (Nicole Quint, DER STANDARD, 13.09.2014)