STANDARD: Ihre Filialen sind vor allem zu Mittag bestens besucht von Menschen, die fertige Speisen mitnehmen. Ist Fleisch in der Fleischhauerei Radatz mittlerweile eine Randnotiz?

Franz Radatz jun.: Fleisch ist immer noch eine wichtige Säule – speziell für das Wochenende, wo man eher die Muße hat, selbst zu kochen. Unter der Woche trägt die Gastronomie bei uns in den Filialen teilweise sogar überwiegend zum Geschäft bei. Im Wiener Donauzentrum sind das zum Beispiel 60 Prozent.

STANDARD: Sie haben 1988 mit Fertiggerichten begonnen. Ist das Gastronomiegeschäft margenträchtiger?

Franz Radatz sen.: Kann man nicht sagen. Aber wenn die Leute kommen, kaufen sie auch etwas anderes. Wir waren da sicher einer der Ersten. Früher hatten wir im Geschäft zehn Meter Vitrine. Da waren sechs Meter Fleisch, dann noch Käse und Wurst und das Heiße, Leberkäse zum Beispiel.

Franz jun.: Wir haben 1988 am Karmelitermarkt mit der Gastronomie angefangen. Der Hintergrund: Früher hat traditionell der Fleischer Mittagspause gehabt. Das haben wir mit dem Menü überbrückt, weil die Mitarbeiter in Wien mit der Pause nichts anfangen können.

STANDARD: Was wurde gekocht?

Franz jun.: Die typische Wiener Hausmannskost. Es hat sich herausgestellt, dass sich die Kunden immer wieder die gleichen Dinge wünschen. Beim Imbiss zum Beispiel geht am besten Gebackenes.

STANDARD: Wächst das Geschäft noch?

Elisabeth Radatz-Fiebinger: Eher in Richtung Convenience. Immer besser gehen Stücke, die man zu Hause nur noch in die Pfanne hauen muss und wo man trotzdem das Gefühl hat, man hat eh gekocht. Es riecht dann immerhin nach Kochen. Was zurückgeht, ist die Stückware: Kranzl, Dürre.

Franz sen.: Die Leute kaufen jetzt sliced. 150 Gramm, 100 Gramm, 200 Gramm. Da reißt man das Packerl auf und kann schon essen.

Franz jun. (links) und Franz sen. (rechts) und in ihrer Mitte Elisabeth: die Familie Radatz über frühere Zeiten und aktuelle Herausforderungen.
Foto: Bruckner

STANDARD: Die Österreicher sind große Grillmeister. Fällt das ins Gewicht?

Franz jun.: Das ist schon ein wichtiger Bereich. Die Käsekrainer ist die beliebteste Wurst. Wir produzieren hier in Erlaa 7,6 Millionen Stück pro Jahr. Eine lustige X-Lage-Variation davon ist das Grillhäppchen. Das war zunächst eher als Scherzartikel gedacht. Die Käsekrainer gibt es damit als Schnecke, als Mini-Käsekrainer, und eben als Grillhäppchen.

STANDARD: Der Legende nach begann die Geschichte der Käsekrainer in den 1970er-Jahren in Salzburg, wo ein Radatz-Verkaufsleiter sie mit einem Einkäufer einer namhaften Supermarktkette entwickelt haben soll. Eine Wurst, die außer Brät auch etwas Käse enthält. Hat man damals nicht Würste eher gekocht?

Franz sen.: Der Würstelstand Teibtner beim Ernst-Happel-Stadion im Prater, einer der ältesten in Wien, hat die gleich auf den Grill gelegt. Dann ist man auch draufgekommen, dass die Käsekrainer gegrillt besser schmeckt.

Elisabeth: Weiterentwickelt hat sie dann unsere Tante mit dem Stupfen, also mit dem Anstechen. Damit kommt der Käse gezielt heraus, und die Wurst spritzt nicht.

STANDARD: Was war in den 1970ern die beliebteste Wurst?

Franz sen.: Burenwurst, Debreziner, Frankfurter, Bratwurst, Waldviertler, dunkel geselcht.

Franz jun.: Und unsere Tante schält die Waldviertler für die Kunden ab, weil die Haut eher hart ist.

Franz sen.: Sie ist einzigartig. Hat bei uns gelernt, als sie 15 Jahre alt war. Wir haben ihr alte Weisheiten mitgegeben. Die geschälte Wurst ist ihr selbst eingefallen.

Elisabeth: Dazu muss man wissen, dass unsere Großmutter mütterlicherseits Wirtin war. Die Tante und unsere Mutter sind im Wirtshaus aufgewachsen. Und irgendwann kam dann ein Fleischhauer hereingestiefelt und hat unsere Mutter geheiratet und die ganze Familie dazu.

STANDARD: Als Sie angefangen haben, waren die Leute bei weitem nicht so wohlhabend. Hatten da Wurst und Fleisch einen anderen Stellenwert?

Franz sen.: Es hat in jeder Gasse drei kleine Fleischhauer gegeben ...

STANDARD: ... die es alle schon lange nicht mehr gibt. Wie haben Sie es geschafft, dem landauf, landab erfolgten Fleischersterben zu entgehen?

Franz sen.: Als meine Frau und ich und ein Geselle angefangen haben, gab es noch 7.000 Fleischhauer und die kleinen Greißler. Der Geselle war der Josef Palfrader, vom "Kaiser" der Vater, der auch der Mann von besagter Tante war. Wir haben danach gestrebt, mehr zu verkaufen. Ich hatte kein Verkaufstalent. Wenn ich bei drei Kunden hineingegangen bin, und die haben mir nichts abgekauft, habe ich den Hut draufgehaut. Dann habe ich unseren Verkaufsleiter entdeckt. Er hat gesagt, er weiß, wie das geht. Wir haben ein Auto gekauft, und er ist zu den Greißlern gefahren. Dann ist uns das natürlich über den Kopf gewachsen auf der Wieden. Die kleinen Fleischhauer haben vielleicht 300 Kilogramm Wurst gemacht, und wir haben vier Tonnen gemacht in der Woche. Da hat es Tag und Nacht beim Fenster hinausgeraucht. Das muss man sich vorstellen. Mitten im Wohngebiet.

STANDARD: Heute würde so etwas sofort zugesperrt.

Franz sen.: Ja. Wir haben dann auch diese Liegenschaft gefunden, 900 Quadratmeter waren das. Da dachte ich, wir haben Platz, solange ich lebe. Das hat sich dann geändert. Damals hat man die Supermärkte nicht ernst genommen. Dort und da war einer, einen Helmut Hofer hat es gegeben, einen Billa, einen Eisenberger, die Löwa-Märkte. Die hatten damals kein Fleisch. Billa hat uns dann total zum Vergrößern angetrieben.

Franz jun.: Damals wurde alles offen verkauft.

Franz sen.: Genau. Man hat mir damals dann gesagt, dass ich das verpacken muss. Verpacken tue ich nichts, habe ich gesagt. Probieren wir das unverpackt, hat es dann geheißen. In Wien ist war das ohnedies nicht so üblich. Bei Billa war das auch so. Der spätere Generaldirektor Veit Schalle war noch Filialinspektor. Da gab es die Überlegung, Selbstbedienung zu machen. Auch da habe ich gesagt: Verpacken tue ich nichts.
Eine Wurst ist ein Lebewesen, die kann man nicht einsperren. Dann habe ich Geschäft verloren, da wusste ich, ich muss.

STANDARD: Auch ein Karl Wlaschek hat klein angefangen. Wie war das?

Franz sen.: Damalige Größen haben gesagt, ich gebe dem Wlaschek nichts, weil ich weiß ja nicht, ob der zahlen kann. Ich habe mich nicht gefürchtet. Ich habe Wechsel und alles genommen.

Franz Radatz sen.: "Man muss etwas Gutes machen, damit die Leute kaufen."

STANDARD: Früher mussten Lebensmittelhersteller den Hunger der Menschen stillen. Jetzt müssen sie quasi den Hunger der Leute wecken.

Franz sen.: Ja, ist ein guter Satz. Man muss etwas Gutes machen, damit die Leute kaufen. Das Hungerstillen war speziell in der Nachkriegszeit ein Thema. Ich habe 1941 zu lernen begonnen, mit 14 Jahren. Zu dieser Zeit war es wichtig, dass ein Fleischhauer eine Ware hatte. Verkauft hat man das leicht. Damals hat man auch relativ viel Geld verlangt, weil es ja auch gegangen ist, und es wurde viel verdient. Die kleinen Fleischhauer haben die Zinshäuser gekauft. Da war die Konkurrenz nicht so groß. Die Preise haben sie sich abgeschaut.

STANDARD: Wieso sind dann die meisten den Bach hinuntergegangen?

Franz sen.: Ein Hauptgrund war wohl, dass sich die Fleischhauer so geplagt haben und sich gesagt haben, unsere Kinder sollen es einmal besser haben. Die sollen studieren und etwas lernen. 15 Stunden Arbeiten war da keine Seltenheit. Man hat von 4 Uhr in der Früh bis zum Abend gearbeitet. Dass die Kinder das nicht übernommen haben, war einer der Hauptgründe.

STANDARD: Sprechen wir ein bisschen über die Preise. Der Kunde gibt ja heute verhältnismäßig wenig für Essen aus. Vor 40 Jahren hat das Fleisch auch so viel gekostet wie heute.

Franz jun.: Es ist zwar immer noch viel Handarbeit, aber wir nützen Technik, wo es möglich ist, und durch die hohe Stückzahl kann man auch entsprechend günstig sein.

STANDARD: Fleischhauer ist sicher ein Knochenjob. Leiden Sie unter Fachkräftemangel?

Franz jun.: Am liebsten bilden wir selber aus. Jedes Jahr nehmen wir 30 Lehrlinge oder auch mehr auf.

Franz sen.: Bevor die Menschen aus Ex-Jugoslawien gekommen sind, hatten wir ein großes Problem. Da musste man Fleischhauer bitten zu kommen und damit locken, dass man mehr bezahlt. Heute haben wir für viele Tätigkeiten Hilfsarbeiter angelernt. Fast 70 Prozent der Mitarbeiter kommen aus Ex-Jugoslawien. In der Verpackung, aber auch in der Wurstfüllung arbeitet kein einziger Österreicher.

STANDARD: Es gibt immer mehr Menschen, die fleischlos leben. Spüren Sie das?

Franz sen.: Man sieht schon junge Leute, die auch viel Wurst essen. Gott sei Dank.

Franz jun.: Auf der anderen Seite machen wir seit Jahren Suppen oder Gemüselaibchen. Wenn der Trend stärker wird, werden wir da auch etwas anbieten. Das ist evolutionär.

Elisabeth: Dass sich das Bewusstsein für den Wert von Nahrungsmitteln – insbesondere von Fleisch – ändert, ist sicher etwas Sinnvolles.

Franz sen.: Man soll keine Tiere quälen. Das ist schon klar. Es gibt ja Leute, die sind der Meinung, Tiere haben dasselbe Recht wie der Mensch. Die muss man einfach in Ruhe lassen und streicheln. (Regina Bruckner, DER STANDARD, 10.10.2014)