Buchautor Viktor Staudt hat seine psychischen Probleme heute unter Kontrolle - Suizidgedanken hat er keine mehr.

Foto: Mare di foto

Der 10. September ist der Welttag der Suizidprävention. Wie sich Menschen fühlen, die nicht mehr leben wollen, ist schwer vorstellbar. Der Niederländer Viktor Staudt war 1999 in seiner größten Lebenskrise. Er hat seinen Selbstmordversuch überlebt und ein Buch geschrieben, das dieser Tage auf Deutsch erscheint.

derStandard.at: Selbstmord ist ein Tabuthema, und das mit gutem Grund. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass die Berichterstattung suizidgefährdete Menschen animiert. Sie haben ein Buch über Ihren eigenen Selbstmordversuch geschrieben. Ist das nicht fahrlässig?

Staudt: Natürlich habe ich einen Tabubruch begangen, gar keine Frage. Das Phänomen, von dem wir reden, hat einen Namen und heißt Werther-Effekt. Goethes literarische Figur stand Pate. Werther ist unglücklich verliebt und bringt sich um. Das hatte viele Nachahmer, daher kommt auch die Bezeichnung.

derStandard.at: Wie rechtfertigen Sie dann diese Publikation?

Staudt: Mit dem Papageno-Effekt. Auch da gibt es das literarische Vorbild aus Mozarts "Zauberflöte". Papageno ist verzweifelt, will nicht mehr leben, aber dann zeigen ihm drei Knaben Wege aus dem Unglück auf. Ich schreibe über mein Leben, über meine Suizidgedanken und meinen Selbstmordversuch, bei dem ich beide Beine verloren habe. Ich schreibe aber auch über meine Grunderkrankung, die mich zu diesem Suizid getrieben hat, und wie ich heute mit der Erkrankung umgehe. Es geht mir viel besser, an Suizid denke ich heute nicht mehr.

derStandard.at: War Ihnen vor Ihrem Suizidversuch nicht bewusst, dass Sie krank sind?

Staudt: Ich wusste schon, dass ich Panikattacken hatte, ich wusste, dass ich mich unter Menschen sehr plötzlich sehr unwohl fühlen konnte, wegwollte. Aber ich fühlte mich diesen Gefühlen gegenüber vollkommen ohnmächtig. Depressionen sind nicht immer gleich, einmal sind sie stärker, einmal schwächer. Dann sagt man sich eben selbst: "Na, das wird schon wieder."

derStandard.at: Haben Sie sich nie Hilfe gesucht?

Staudt: Ich war den Angst- und Panikattacken, den Depressionen voll ausgeliefert und habe auch keine Auswege gesehen. 14 Jahre nach meinem Suizidversuch bin ich immer noch derselbe Mensch und habe immer noch Depressionen. Der einzige Unterschied zu damals: Ich kann sie kontrollieren, die Depression kontrolliert mich nicht mehr. Das gelingt mir glücklicherweise mit Medikamenten extrem gut.

derStandard.at: Bis zur Diagnose hat es lange gedauert, sie wurde erst fünf Jahre nach Ihrem Suizidversuch gestellt. Wie das?

Staudt: Die psychiatrische Versorgung in den Niederlanden ist nicht besonders gut. Nach dem Suizidversuch wurde ich intensivmedizinisch versorgt, viele Ärzte haben eine Hemmung, über Suizid zu sprechen. Ich selbst hatte sie auch. Die zwei Sitzungen Psychotherapie pro Woche konnten mir meine Ängste nicht nehmen.

derStandard.at: Wie meinen Sie das genau?

Staudt: Wer sich umbringen will, ist verzweifelt. Wer verzweifelt ist, hat keine Hoffnung und sieht keinen Ausweg. Auch Freunde und Bekannte nicht, weil man ständig fürchtet, nicht verstanden zu werden. Die Einsamkeit, die dadurch entsteht, ist tödlich.

derStandard.at: Innere Unruhe gilt in der Psychiatrie als Warnsignal für Suizidgefährdung. Stimmte das für Sie?

Staudt: Es gibt viele unterschiedliche Lebenssituationen, die zu Verzweiflung führen. Die innere Unruhe kannte ich bis zu dem Moment, als ich mich entschloss, mir das Leben zu nehmen. Das hat mich ruhig und gelassen gemacht.

derStandard.at: Haben Sie nie an die Menschen gedacht, die Sie mit Ihrem Selbstmord verletzen könnten?

Staudt: Nein, daran habe ich nicht gedacht. Aber nicht aus Egoismus, sondern deshalb, weil man sich von der Welt und allen Menschen längst distanziert hat. Ich hatte mich innerlich von Freunden und Verwandten verabschiedet. Nicht mit Briefen, nur stumm für mich. Ich empfand meine Existenz nur mehr körperlich. Wer an den Lokführer oder an seine Freunde denkt, hat noch Kontakt zur Welt und zu Menschen – und würde sich deshalb nicht umbringen.

derStandard.at: Hätten Freunde helfen können?

Staudt: Ich hatte Angst vor ihren Reaktionen, Angst, dass sie mich nicht verstehen würden oder vielleicht sogar versuchen würden, mich aufzuheitern, mir zu sagen, dass alles wieder gut werden würde. Das lässt einen verstummen. Es gibt dann einfach nichts mehr zu sagen.

derStandard.at: Sie haben überlebt, leben heute im Rollstuhl. War dieser Suizidversuch der Wendepunkt in Ihrem Leben?

Staudt: Nein, der kam erst fünf Jahre später und war die Diagnose, die mir eine Psychiaterin in einer Reha-Klinik stellte: Borderline-Syndrom. Plötzlich konnte ich meinen Zustand verstehen und begreifen. Etwas dagegen machen. Heute kann ich Herausforderungen annehmen. Es ist, als ob ich aus einem schwarz-weißen Universum in eine Welt mit Farben übergewechselt wäre. Menschen mit Borderline-Störung leben in einem Paralleluniversum. Heute kann ich essen gehen, Freunde treffen, sogar Vorträge halten, ohne dabei von Angstattacken überfallen zu werden. Das ist Lebensqualität.

derStandard.at: Welche Rolle spielten Internetforen? Vor Ihrem Suizidversuch haben Sie sich dort mit Gleichgesinnten ausgetauscht.

Staudt: Dort fand ich Menschen mit ähnlichen Problemen wie ich selbst. Natürlich hatte ich Hoffnung, dort Unterstützung zu finden. Die Gefahr, dass sich dort Ängste potenzieren, ist aber sehr groß. Ich denke, dass viele Suizidgefährdete psychische Probleme haben und sich helfen lassen könnten.

derStandard.at: Wie halten Sie es heute mit der Kommunikation via Internet zu diesem Thema?

Staudt: Es gibt viele Menschen mit ähnlichen Gedanken, wie ich sie seinerzeit hatte, die mir schreiben. Ich nehme das ernst, frage nach, und oft gelingt es mir, in einen Dialog zu treten. Aus meiner Sicht hatte ich bei meinem Suizidversuch einfach nicht alles gut überlegt, wusste nicht alles über mich. Ich habe immer noch Probleme, gehe aber anders mit ihnen um. Es gibt auch Menschen, die mir schreiben und sich dann nicht mehr melden, weil sie sich umgebracht haben. Das Recht dazu hat jeder. Doch wenn ich auch nur einen einzigen Menschen durch mein Engagement retten kann, habe ich mein Ziel erreicht. (Karin Pollack, derStandard.at, 10.9.2014)