Youssef Belkhadir in den Räumen des Wiener Gregor-Mendel-Instituts: Hier wird er seine Forschungen über das Immunsystem und das Wachstum der Pflanzen zusammenführen.

Foto: Heribert Corn

STANDARD: Sie sind in Marokko aufgewachsen, waren in Frankreich und den USA tätig und haben nun die Leitung einer Forscherguppe am Wiener Gregor-Mendel-Institut (GMI) übernommen. Wie ist das marokkanische Wissenschaftssystem im internationalen Vergleich?

Belkhadir: Erstarrt. In Marokko wird zwar beschreibende Wissenschaft betrieben, aber keine Forschung, die an die Limits geht. Der Hauptgrund dafür ist: Die Wissenschaft hat nicht die nötige Unterstützung, die sie benötigen wurde.

STANDARD: Dennoch haben Sie 2010 einen Job in Marokko angenommen - warum?

Belkhadir: Als ich 2010 von den USA nach Marokko zurückging, war mir das noch nicht klar, die ökonomischen Rahmenbedingungen schienen in Ordnung: Ich wurde von Ahmed Réda Chami, dem marokkanischen Minister für Industrie, Handel und Technologie, gefragt, ob ich den biotechnologischen Zweig eines neu gegründeten Forschungsinstituts leiten wolle. Es waren genügend finanzielle Mittel vorhanden, und der Minister hatte verstanden, welche Bedeutung der Wissenschaft zukommt. Leider verliefen die Dinge nicht so wie geplant. Es gab viele Versprechen, aber es passierte wenig oder zu langsam für meinen Geschmack, weil die Pläne des Ministers im mittleren Management versickerten.

STANDARD: Wie haben Sie reagiert?

Belkhadir: Ich zog mich nach kurzer Zeit wieder aus dieser Tätigkeit zurück und gründete eine Biotechnologiefirma - auch um die Pflanzenwissenschaft in meinem Heimatland etablieren. Man muss bedenken: In Afrika gibt es keine Biotech-Start-ups, wir sind völlig von Technologien abhängig, die aus anderen Ländern stammen. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Marokko ist einer der wichtigsten Tomatenproduzenten der Welt. Aber die Samen stammen aus dem Ausland. Mit der entsprechenden Technologie hätte das Land die Kapazität, die gesamte Produktionskette im eigenen Land durchzuführen. Allerdings gibt es in Marokko kaum Venture-Capital. Niemand versteht, dass ein Start-up nicht zum Zeitpunkt X programmierte Gewinne abwerfen kann. Geld wäre da, aber es fehlt die Vision, die Mentalität, um Forschung zu ermöglichen.

STANDARD: Welche Mentalität braucht es da?

Belkhadir: Nehmen wir als Beispiele England, Frankreich, die USA und Österreich - in all diesen Ländern gibt es Institutionen, die Geld in die Forschungsinstitute stecken und ihnen die Möglichkeit geben, Grundlagenforschung zu betreiben. Die Gleichung "Geld plus Zeit plus Equipment ergibt ein Produkt" funktioniert nicht. Es kann und soll auch ein Produkt entstehen, aber es braucht die Freiheit der Forschung.

STANDARD: Hat der Arabische Frühling die marokkanische Forschungslandschaft verändert?

Belkhadir: Falls ja, dann in positiver Hinsicht. Das Land ist bereit für eine neue Verfassung und nun für ausländische Investoren interessanter als zuvor. Ich spreche hier nur für Marokko, nicht für andere Länder.

STANADRD: Sie waren auch am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, einem für seine Architektur bekannten Institut. Es gibt dort gesonderte Räume für Kontemplation sowie Tafeln an den Außenwänden der Gebäude, um Diskussionen zwischen den Forschern zu fördern. Hat sich das Konzept bewährt?

Belkhadir: Auf jeden Fall. Es wurde auch an vielen anderen Instituten kopiert. Die minimalistische Architektur spiegelt aus meiner Sicht auch die Denkweise von Wissenschaftern wider: Die Gebäude sind schön und robust, sie zeigen die Konzentration auf das Wesentliche.

STANDARD: Und in sozialer Hinsicht?

Belkhadir: Wir haben uns jeden Tag im Hof des Komplexes zum Mittagessen getroffen, auf den Ozean geschaut und uns über wissenschaftliche Themen ausgetauscht. Wobei sicher auch das kalifornische Klima hilfreich war. Grundsätzlich glaube ich, dass eine anregende Atmosphäre einer der wichtigsten Faktoren für erfolgreiche Forschung ist. Man muss den Forschern die Möglichkeit ge- ben, Kollegen mit ganz anderen Sichtweisen zu treffen. Wissenschafter sind am kreativsten, wenn sie in entspannter Atmosphäre über neue Ideen diskutieren. Dann entstehen die verrücktesten Konzepte.

STANDARD: Wo entstehen am Wiener GMI solche Situationen?

Belkhadir: Auf der Terrasse des Gebäudes. Wir treffen uns jeden Freitagnachmittag um fünf Uhr mit den Kollegen aus den anderen Instituten am Vienna Biocenter. Es gibt etwas zu essen, und jeder kann mit jedem reden. Die Leute sind offen, hier gibt es die notwendige kreative Energie.

STANDARD: Und im Winter?

Belkhadir: Tja, das weiß ich nicht. Ich bin erst seit Juni hier. Aber soweit ich gehört habe, gibt es mehrtägige Skiurlaube, an denen die Forscher teilnehmen.

STANDARD: Was planen Sie wissenschaftlich am Gregor-Mendel-Institut?

Belkhadir: Als ich in den USA meinen Doktor gemacht habe, war das Immunsystem von Pflanzen mein Forschungsthema. Danach habe ich mich auf das Pflanzenwachstum konzentriert. Nun versuche ich diese Felder zusammenzuführen. Denn sie hängen zusammen: Pflanzen haben eine bestimmte Menge an Ressourcen zur Verfügung und müssen entscheiden: Wo investiere ich diese Mittel? In die Abwehr von Viren, Bakterien und Pilzen oder in das Wachstum? Im Grunde ist es wie in einer Bank, die einen bestimmten Betrag zur Verfügung hat und Investitionen tätigen muss.

STANDARD: In einer Bank weiß der Buchhalter, wie es um die Bilanzen bestellt ist. Wer macht die Buchhaltung in Pflanzen?

Belkhadir: Genau das versuche ich herauszufinden. Auf jeden Fall sind es viele Buchhalter, die sich nachts treffen. Warum in der Nacht? Weil Pflanzen untertags Sonnenlicht in Energie umwandeln. In der Nacht wird bilan- ziert und dann die Entscheidung getroffen, wohin die Ressourcen fließen.

STANDARD: Zum Schluss bitte eine Prozentrechnung. Was sind die wichtigsten Motive für Forscher, um einen Job in einem anderen Land anzunehmen? Zur Auswahl stehen: Forschung, die Stadt und das Gehalt.

Belkhadir: Ich würde sagen: An erster Stelle steht die Qualität der Forschung mit 80 Prozent, der Stadt gebe ich 17 Prozent. Bleiben daher nur drei Prozent für das Gehalt. (DER STANDARD, 10.9.2014)