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Fahrradrikschas und Rollls-Royce - zwei Seiten des neuen Chinas

Foto: Reuters / Kim Kyung-Hoon

Dass sich im Zuge der Globalisierung die Ungleichheit in den Industriestaaten deutlich verschärft hat, ist spätestens seit Thomas Pikettys Buch "Kapital im 21. Jahrhundert" jedem bekannt. Für Ökonomen war das nichts Neues, doch gingen sie auch davon aus, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den Entwicklungsländern im Gegenzug zugeht.

Der Grund sind die Handelstheorie von David Ricardo und ihre Weiterentwicklung im 20. Jahrhundert im sogenannten Stolper-Samuelson-Theorem: Wenn arme und reiche Länder miteinander Handel betreiben, spezialisieren sich alle auf jene Güter, in denen sie einen komparativen Vorteil haben – die Reichen auf kapitalintensive Güter mit hohem Technologieanteil, die armen auf Waren, die mit billiger Arbeitskraft hergestellt werden.

Deshalb profitieren in reichen Ländern vor allem die Kapitaleigner, also die Reichen, in armen Ländern hingegen die einfachen Arbeitskräfte, die durch stärkere Exporte erstmals eine Chance auf Industriejobs haben und gleichzeitig von billigeren Importen profitieren. In der internationalen Arbeitsteilung werden in Entwicklungs- und Schwellenländern vor allem arbeitsintensive Güter produziert.

Gini-Koeffizient ist gestiegen

Doch die Daten der vergangenen Jahre sprechen eine andere Sprache: Auch in den meisten Entwicklungsländern steigt der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit misst, in China gar um 34 Prozent in 20 Jahren.

Wie lässt sich das erklären? In China, wo das maoistische Gesellschaftsmodell von einem zügellosen Kapitalismus verdrängt wird, ist es plausibel. Aber in Schwarzafrika etwa viel weniger.

Der "Economist" beschrieb vor kurzem, wie Topökonomen nach Ursachen suchen. So vermutet der US-Nobelpreisträger Eric Maskin, dass besser qualifizierte Arbeiter durch die Integration mit der Weltwirtschaft produktiver werden, weil sie mit Fachkräften aus Industriestaaten zusammenarbeiten. "Matching" nennt er dieses Phänomen.

Die Mittelschicht profitiert

Wenn das stimmt, dann sind es weniger die Kapitalbesitzer, also die Oberschicht, die finanziell davonzieht, sondern die aufstrebende städtische Mittelschicht, die in armen Ländern allerdings selbst eine Minderheit darstellt. Der Effekt ist ähnlich: Wenn die Landbevölkerung und die Menschen ohne Bildung an diesen neuen Chancen nur wenig Anteil haben, geht die Einkommensschere auseinander.

Dieser Trend beeinflusst eine der wichtigsten Debatten in der Entwicklungspolitik: Was ist der beste Weg zur Armutsbekämpfung? Ist es Wirtschaftswachstum, das neue und bessere Jobs auch für die Unterschicht schafft, oder braucht es gezielte Förderungen für die Armen?

Wachstum ist nicht genug

In den vergangenen Jahren neigten zahlreiche Ökonomen der ersten These zu: Nichts helfe den Armen so sehr wie starkes Wachstum, zu sehen etwa in China und Indien. Aber wenn ein bedeutender Teil der Bevölkerung daran nicht teilhaben kann, verringert Wachstum an sich die Armut nicht. Dann müssen auch sehr arme Länder mit geringen Ressourcen Armutsprogramme entwickeln.

Das Problem ist allerdings, dass viele Eingriffe in den Markt, etwa gesetzliche Mindestlöhne oder subventionierte Grundnahrungsmittel, gerade in Entwicklungsländern das Wachstum hemmen. Und ohne Wachstum, das ist gewiss, geht die Armut nicht zurück.

Erfolgreicher Kampf gegen Armut

Hoffnung geben Länder wie Brasilien, das mit seinem "Borsa Familia" – arme Familien erhalten Bargeld, wenn sie ihre Kinder in die Schule schicken – eines der erfolgreichsten Armutsbekämpfungsprogramme entwickelt hat. (Ob die von Präsidentin Dilma Rousseff versprochene Ausweitung des Programms eine so gute Idee ist, bleibt dahingestellt.) Und gerade in Brasilien ist die Ungleichheit immer noch sehr groß, aber sie geht zurück.

Das lässt hoffen, dass wachsende Ungleichheit in Entwicklungs- und Schwellenländern gebremst werden kann - und das ohne eine massive Umverteilung, die in Ländern mit schlecht funktionierenden Steuersystemen ohnehin nicht funktioniert. Investitionen in und Anreize für Bildung sind hier sicherlich ein Schlüssel.

Wird die Welt etwas gerechter?

Spannend ist die Frage, wohin sich die globale Ungleichheit entwickelt. Wenn sehr große Länder mit geringerem Lebensstandard wie China und Indien viel schneller wachsen als die wohlhabenden Volkswirtschaften in Europa, Nordamerika und Japan, dann sollte weltweit die Schere zwischen Reich und Arm, also der globale Gini-Koeffizient, schrumpfen. Der Wohlstandsgewinn für hunderte Millionen Chinesen sollte die wachsende Ungleichheit in den USA ausgleichen.

Das heißt, trotz wachsender Ungleichheit innerhalb der meisten Länder. würde die Welt an sich etwas gerechter werden. Doch sicher ist das nicht. Und es hilft jenen wenig, die in den Entwicklungs- und Schwellenländern zurückbleiben. (Eric Frey, derStandard.at, 10.9.2014)