Er arbeitete bereits in den 1980er-Jahren mit Transvestiten als Laufstegmodels. Heute ist Conchita Wurst die Muse von Jean Paul Gaultier.

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Verwirrende Körper- und Geschlechterformen auf dem Laufsteg von Jean Paul Gaultier: Männer in Bustier ...

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... und Wickelrock.

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Starke Frauen in Spitzen und Strapsen.

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Jean Paul Gaultier sitzt kerzengerade auf einem roten Sofa in der Lobby des Hotel Sacher. Beide Handflächen auf den Oberschenkeln, die Augen wach und beobachtend. Er trägt ein mittelblaues Hemd mit großen weißen Punkten, eine Armbanduhr von Hermès, weiße Hosen und schwarze Dr. Martens. 62 ist der französische Designer bereits, aber noch immer hat er ein fröhliches Kindergesicht.

STANDARD: Herr Gaultier, was bringt Sie nach Wien?

Gaultier: Conchita! Die Gewinnerin des Song Contest ...

STANDARD: ... und die Braut Ihrer letzten Haute-Couture-Modeschau.

Gaultier: Richtig! Das Kleid trug den Namen "Kaiserin Zizi" (im Französischen ein Kosewort für das männliche Geschlecht, Anm.). Vor zwei Jahren entdeckte ich ein Foto von Conchita und dachte mir: Die ist ja fantastisch! Damals wollte ich, dass sie bei meiner Schau mitläuft, aber wir hatten nicht genug Zeit, ein Kleid für sie zu nähen. Sie ist klein und besonders zart. Ich lud sie ein, meine Show anzuschauen, und als ich sie kennenlernte, fand ich sie sehr nett und charmant.

STANDARD: Sie waren immer schon am Spiel der Geschlechter interessiert.

Gaultier: Trompe-l'Oeil fasziniert mich. Bei meinen Modeschauen führen oft schöne Frauen vor, die in Wirklichkeit Männer sind. Egal ob operiert oder nicht, transsexuell oder nicht. Alles, was nicht perfekt ist, was man von zwei Seiten betrachten kann, begeistert mich. Vor allem wenn es um Geschlechterfragen geht.

STANDARD: Für Sie gab es nie ein klares weibliches oder männliches Bild?

Gaultier: Was ist schon maskulin, was ist feminin? Ich zeige gerne die Seiten der Frau, die maskulin sind, und vermische sie mit ihrer Weiblichkeit; das Gleiche tue ich bei Männern. Ich mag Kleider, die kein Geschlecht haben. Insofern designe ich auch solche.

Schon in den 1980er-Jahren habe ich mit dem amerikanischen Transvestiten Terry Toy gearbeitet, der oft vom berühmten Modefotografen Steven Meisel fotografiert wurde. Für mich sah er wie eine moderne Frau aus. Auch androgyne Mädchen gefallen mir: Kirsten Owen finde ich unglaublich schön, da sie maskulin und gleichzeitig feminin ist.

STANDARD: Interessiert Sie auch das erotische Verwirrspiel?

Gaultier: Wenn man Fantasie hat, ist vieles erotisch verwirrend. Ich arbeite auch oft mit Andrej Pejic. Er sieht wie eine wunderschöne Frau aus, sehr natürlich, ohne zu übertreiben. Aber als ich Conchita das erste Mal sah, dachte ich mir: " Ah! Die Sache entwickelt sich einen Schritt weiter!"

STANDARD: In welche Richtung?

Gaultier: Sie ist ein junger Mann, mit sehr femininer Haltung, hat eine sehr weibliche, körperliche Fragilität - ihre langen Haare, wie sie sich kleidet und wie sie ihr Make-up trägt. Auf der anderen Seite hat sie diesen Bart und versucht ihn gar nicht zu verstecken, sondern ganz im Gegenteil: Sie trägt ihn sehr präsent zur Schau. Das ist wirklich mutig. Dieser Widerspruch reizt mich. Es ist eine neue Art, sich zu definieren, die mir gefällt.

Denn in Wahrheit ist ein Damenbart ein Tabu, eine Beleidigung. Die "Bärtige Frau" wurde im Zirkus als Attraktion zur Schau gestellt. Sie war ein Skandal. Frauen können Haare haben, aber nur an den richtigen Stellen. Die anderen sollen bitte rasiert werden. Conchita hebt ihre Andersartigkeit hervor, ich finde das sehr intelligent. Ich glaube nicht, dass sie es tut, um im Mittelpunkt zu stehen oder um zu schockieren, sondern um Menschen darauf aufmerksam zu machen, toleranter zu werden und Unterschiede anzunehmen. Wieso soll man als Mann nicht feminin sein? Wieso soll man sich als Mann nicht gleichzeitig feminin und maskulin darstellen dürfen?

STANDARD: Seit wann denken Sie über diese Fragen nach? In Ihrer Mode spielen sie seit je eine besondere Rolle.

Gaultier: Mein erstes Model, meine erste Muse war mein Teddybär. Vielleicht kommt es daher. Ich wollte unbedingt eine Puppe, aber meine Eltern waren strikt dagegen, weil ein Bub zu dieser Zeit unmöglich mit Puppen spielen durfte. Also designte ich meinen berühmten "Cone-Bra" (der superspitze Kegel-BH, den Madonna populär machte, Anm.) das erste Mal für meinen Teddy. Alle Kleider, die ich als kleiner Junge designte und nähte, verpasste ich dann eben meinem Teddybären.

STANDARD: Tatsächlich?

Gaultier: Ja! Für welches Geschlecht ich designe, ist mir bis heute einerlei. Ich denke nicht darüber nach, ob es männlich oder weiblich aussehen soll, sondern spiele mit diesen Rollenbildern und denke nicht an Tabus.

STANDARD: Worin wurzelt dieses Freiheitsgefühl?

Gaultier: Obwohl ich in sehr einfachen und bescheidenen Verhältnissen aufwuchs, waren meine Eltern und meine Großmutter - bei der ich viel Zeit verbrachte - extrem tolerant und aufgeschlossen. Bei meiner Großmutter durfte ich alles anschauen, was es im Fernsehen zu sehen gab. Mit zwölf Jahren sah ich Stanley Kramers Film "Guess Who's Coming to Dinner" (Rat mal, wer zum Essen kommt) mit Sidney Poitier. Ein Mädchen aus guter Familie bringt ihren Freund mit nach Hause. Er ist schwarz. Es ist eine Schande. Als ich meine Eltern fragte: "Was würdet ihr sagen, wenn ich ein schwarzes Mädchen nach Hause bringe?", war die Antwort: "Wenn ihr euch liebt, dann ist alles in Ordnung."

Als ich meiner Mutter zehn Jahre später sagte, dass ich mit einem Mann lebe, fragte sie mich lediglich: "Seid ihr verliebt?" – "Ja", sagte ich. Und sie: "Schön, dass du verliebt bist. Das macht mich glücklich." So waren meine Eltern. Wunderbar! Ich wuchs ohne Bewusstsein für Rassismus und Sexismus auf, erst als ich weniger Zeit mit ihnen verbrachte, bemerkte ich, wie grausam und erbarmungslos die Welt da draußen ist. Ich begann mit achtzehn Jahren in der Modewelt zu arbeiten, und in dieser Welt waren ein paar Leute homosexuell. Ich fühlte mich dort wohl und sicher. Ich fragte mich: Bin ich es auch? Bin ich es nicht?

STANDARD: Sie suchten sich eine geschützte Umgebung aus?

Gaultier: Ja, es war die richtige Welt für mich, in der ich frei arbeiten konnte. Die Freiheit, die ich in meiner Kindheit erfahren habe, gibt mir die Freiheit, kreativ zu designen. Ich glaubte mal an den Weihnachtsmann und an den heiligen Nikolaus; als ich bemerkte, dass es sie gar nicht gibt, dachte ich mir: Okay, Menschen schwindeln. Wenn es den Weihnachtsmann nicht gibt, gibt es vielleicht auch keinen Gott. Und was auch immer mir jemand sagt, stimmt vielleicht nicht. Ich dachte mir ständig: Ist das jetzt die Wahrheit oder eine Lüge? Was ist real, was ist nicht real? Gibt es Realität überhaupt? Hat nicht jeder seine eigene Realität? Das setzte sich bis zu Fragen fort wie: "Was ist elegant, was ist schön?"

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Die Musen des Jean Paul Gaultier: Conchita bei der jüngsten Couture-Show, ...
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STANDARD: Wie sah die Modewelt aus, in der Sie begonnen haben?

Gaultier: Ich begann bei Pierre Cardin, der ein wahres Genie war. Bei ihm gab es keine kreativen Grenzen. Danach arbeitete ich für das Modehaus Jean Patou, das zwar sehr schön, aber auch sehr traditionell und rigide war. Eines Tages kam ich ins Studio und trug Reitstiefel. Ich wurde von oben bis unten gemustert und gefragt, wo denn mein Pferd sei. Dort gab es all diese Regeln und Vorschriften, was erlaubt ist und was nicht.

STANDARD: Dagegen haben Sie sich sehr erfolgreich gewehrt.

Gaultier: Ich erinnere mich, als 1974 ein schwarzes Mädchen mit wasserstoffblonden Haaren zu einem Casting für die Modeschau von Jean Patou kam. Ich dachte mir: "Wow, die ist wirklich cool!" und rannte ganz aufgeregt zu Angelo Tarlazzi, dem Designer des Hauses. Der aber hatte Bedenken: "Hm ... sie ist schwarz, die amerikanischen Einkäufer sind alle Rassisten, also vielleicht lieber nicht ..." Bei Patou ging es auch sonst sehr konservativ zu: Schwarz und Dunkelblau galten als elegante Farben, die Kombination Beige und Gold als schick.

Ich war von Anfang an von Dingen angezogen, die nicht im konventionellen Sinne als schön galten. Natürlich war ich stark von Yves Saint Laurent beeinflusst, der ein Tabu nach dem anderen brach. Bei ihm führten schwarze Mädchen vor, er ließ sich nackt für sein Parfum fotografieren und lebte offen mit Pierre Bergé.

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... Madonna im berühmten Cone-Bra.
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STANDARD: 1979 zeigten Sie Ihre erste eigene Kollektion, wie kam es dazu?

Gaultier: Diesen Schritt verdanke ich der Liebe meines Lebens, Francis Mengue (er verstarb 1990 an den Folgen einer HIV-Infektion, Anm.). Ich hätte wohl weiterhin für andere Modehäuser designt, doch er überredete mich zur Selbstständigkeit und unterstützte mich, indem er den geschäftlichen Teil übernahm. Er machte mir immer Mut, in der Mode noch radikaler zu sein. Ich glaube, er wollte auch etwas beweisen; unser Erfolg war eine enorme Genugtuung für ihn, eine Art sozialer Rache.

STANDARD: In den 1980er-Jahren hatten Sie Ihren großen Durchbruch. Seitdem gelten Sie als das Enfant terrible der französischen Modeszene.

Gaultier: Damals veränderte sich das Männerbild. Meine Kollektionen wurden in Italien produziert. Ich war inspiriert vom Stil und Auftreten der Mailänder. Für französische Chauvinisten galt damals jeder gut gekleidete Italiener als schwul. Bis dahin war die geschlechtsstereotype Vorstellung von Männlichkeit John Wayne: ein selbstbewusster Mann, der immer die gleiche stinkende Kleidung anhat.

Als Mann konnte man auch nie sagen, dass man Parfum verwendet. Nein, es wurde Aftershave genannt. Aftershave bedeutet, man hat einen Bart, man ist männlich. Aber plötzlich sprach ein Schauspieler wie Gérard Depardieu über seine weiblichen Seiten, und unser veraltetes Wertesystem ging langsam in die Brüche.

STANDARD: Ihre erste Haute-Couture-Schau entwarfen Sie ausschließlich für Männer. So etwas hatte es nie zuvor gegeben, war extrem provokant.

Gaultier: Natürlich war mir bewusst, dass es eine Provokation ist. Doch das allein war nicht meine Absicht. Ich stehe für Gleichberechtigung ein und wollte deshalb eine Couture-Kollektion für Männer designen. Ich zeigte klassische Smokings und Anzüge, die mit Bustiers und halben Röcken gemischt waren.

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Model Andrej Pejic.
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STANDARD: Zur gleichen Zeit, im Jahr 1984, zeigten Sie auch Ihren ersten Männerrock, mit dem Sie berühmt geworden sind.

Gaultier: Schon im 17. Jahrhundert gab es Männerkleidung, die wesentlich extravaganter war als Frauenkleidung. Männerröcke oder -kleider sind nichts Neues, es gibt die Djellaba, die Toga und den Kilt. Warum soll ein Mann immer Hosen tragen? Wenn er Lust hat, einen Rock zu tragen, soll er das tun.

Der erste Rock, den ich designte, war ein maskuliner Rock: Ein Bein war ein Hosenbein, das andere ein langer Wickelrock. Ich wurde auch von den Pariser Kellnern des vorigen Jahrhunderts inspiriert. Sie trugen diese fast bodenlangen Schürzen - von vorne sah es aus wie ein langer Rock, von hinten sah man, dass sie Hosen trugen. Einst war es ein Skandal, wenn Frauen Anzüge trugen. Denken Sie an Yves Saint Laurents Smoking! Ich wollte das Gleiche für Männer erreichen.

STANDARD: Allerdings sind Hosen viel bequemer als Röcke.

Gaultier: Wer einen Rock trägt, wirkt gleichzeitig zerbrechlich und provokant, denn an der entscheidenden Stelle fehlt ein kleines Stückchen Stoff; der intime Bereich des Körpers ist nicht bedeckt. Ein kurzer Minirock wird immer schockierender sein als die kürzesten Hotpants.

STANDARD: Sie arbeiten seit 44 Jahren in der Mode und setzen sich bis heute für Gleichberechtigung von Homosexuellen ein. Wie empfinden Sie die neue Welle der Homophobie in Frankreich?

Gaultier: Ich finde das sehr traurig. Die Intoleranz limitiert sich leider nicht nur auf Homosexualität. Wir erleben eine neue Ära des Puritanismus, das äußert sich auch in der Mode, die im Moment sehr schlicht ist. Aber immerhin hat sich in Frankreich die "Ehe für alle" durchgesetzt.

STANDARD: Eine letzte Frage: Was ist Ihr Credo?

Gaultier: Ich versuche in meinem Leben und in meiner Mode ehrlich zu sein. Kompromisse einzugehen entspricht nicht meinem Naturell. (Cordula Reyer, Rondo Exklusiv, DER STANDARD, 17.9.2014)