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Dieser Herr wusste im Jahr 1989 noch, wohin die Reise geht - inzwischen haben sich viele Gewissheiten über die historischen Fahrtrichtungen als Chimären erwiesen: Ein DDR-Flüchtling überquert am 10. September den Grenzübergang Klingenbach.

Foto: Picturedesk/APA/Jäger

Vom Aufbruch zum Untergang dauert es oft nur einen historischen Wimpernschlag. 1989 staunte die Welt darüber, was alles möglich sein kann. 2014 möchte sie das lieber nicht mehr so genau wissen, denn es zeigt sich, dass der Weltgeist wildere Haken schlägt denn je. Das Buch der Stunde (das nicht notwendigerweise ein gutes Buch sein muss) stammt von einem deutschen Althistoriker, der in Brüssel lehrt: David Engels beschreibt in "Auf dem Weg ins Imperium" (Europa-Verlag Berlin) eine Verfallsgeschichte der EU mit Parallelen zum Römischen Reich. Bei den Römern kennt er sich aus, das ist sein Spezialgebiet. Daneben gibt Engels aber noch ein anderes Interesse an, das ihn dazu befähigt, Geschichte auch in einem größeren Maßstab zu deuten: Geschichtsphilosophie zählt er zu seinen Arbeitsgebieten, wobei er, jetzt wird es richtig komplex, auch an der Geschichte der antiken Geschichtsphilosophie interessiert ist.

Nebenbei ist er Gegenwartsdiagnostiker, der aus Beobachtungen des europäischen Individualismus auf Folgerungen für die Verfassung des Gemeinwesens kommt. Das hat er mit Vladimir Putin und anderen Europa-Skeptikern gemein, die aus dem öffentlichen Auftreten von Homosexuellen auf die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaften schließen zu können glauben. Auf dem Weg ins Imperium wurde in Deutschland gerade zum Sachbuch des Monats gewählt, was man selbst als Zeichen jener Freizügigkeit nehmen kann, die manchen inzwischen zu weit geht.

Doch ist Engels ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten bei der intellektuellen Verarbeitung des Wendejahres 1989, das ja mit der Überwindung der Ost-West-Spaltung erst ein "imperiales" Europa möglich machte. Zwei Faktoren spielen dabei vor allem eine Rolle: eine Überschätzung der Politik gegenüber der Ökonomie und eine Versuchung durch die Größe des Ereignisses, das geradezu nach starken Interpretationen zu verlangen schien.

Francis Fukuyama kam mit seinem Aufsatz über "Das Ende der Geschichte" (der ironischerweise in einer Zeitschrift mit dem Namen "The National Interest" erschien) 1989 gerade zur richtigen Zeit, und er tappte in beide Fallen. Der "unabashed victory of economic and political liberalism", den Fukuyama verzeichnete, also einen uneingeschränkten Sieg des ökonomischen und politischen Liberalismus, fand vor dem Hintergrund der überwundenen Totalitarismen des Faschismus und des Kommunismus statt.

In dem Maß, in dem Fukuyama damals meinte, dass die Welt mit dem 20. Jahrhundert auch die gewalttätigen Großversuche hinter sich lassen könnte, stieg der Optimismus, dieses Geschehen in epochalen Kategorien denken zu können. Unverhohlen spielte Fukuyama auf Hegel an, den letzten Philosophen, der Weltgeschichte noch als Prozess einer vereinheitlichenden Idee denken zu können glaubte. Damals arbeitete sich die Welt auch gerade an den Folgen einer Revolution ab, der Französischen, die in Wellen der Restauration führte.

Die Auseinandersetzung mit Fukuyama ist seither ausführlich und manchmal auch ein wenig zu höhnisch geführt worden. Es lohnt sich aber, bei den interessanten Büchern zu 1989 und den Folgen ein wenig neben der Spur zu suchen. Schon 1993 erschien ein Band, der gar nicht ausdrücklich auf das Wendejahr einging, der aber Texte enthält, die gerade heute wieder enorme Brisanz gewinnen: "Weltordnungen. Über Geschichte und Wirkungen von Recht und Macht" (Fischer-Verlag, vergriffen) von Dan Diner, damals Professor in Essen und Tel Aviv, heute in Jerusalem und Leipzig. Ein deutsch-jüdischer Historiker und Intellektueller, der hier Untersuchungen vorwiegend aus den 80er-Jahren zusammenfasste, die zum Teil von bestürzender Aktualität sind.

Vor allem ein Text über Imperialismus und Universalismus sucht nach einem tieferen Verständnis zweier Schlüsselbegriffe für die Welt nach 1989. Das Buch von David Engels bestätigt einen Befund, mit dem Diner beginnt: "Der Begriff Imperialismus ist vor allem ein hochgradig negativ besetztes Wort politischer Rhetorik." Danach macht er aber deutlich, dass die Rede von Imperialismus (und das gilt seit 1989 unter den Bedingungen der Globalisierung umso mehr) vor allem auf eine ungenügend verstandene Beziehung zwischen Politik und Ökonomie zurückgeht. Den territorial verfassten Staaten steht ein Weltmarkt gegenüber, oder genauer: diese sind Teil eines solchen, der mit der Rechtsordnung der lokalen Gemeinwesen nicht vollständig erfasst wird bzw. dessen Dynamiken diese Ordnungen vor immer neue Herausforderungen stellen (die aktuellen Verhandlungen um das transatlantische Freihandelsabkommen sind so gesehen ein Beispiel für eine vorgegebene Verrechtlichung von wechselseitig versuchten Übervorteilungen).

Ungeahnte Schärfe

Eine Pointe bei Diner ist, dass die westliche Strategie eines Imperialismus der "tauschförmigen Durchdringung" gerade als Universalismus ausgegeben wird, während die "gewaltförmige Expansion", die Russland gerade wieder gangbar zu machen versucht, dahinter zurückfällt. Wenn Diner daran erinnert, dass der Imperialismus sein klassisches Zeitalter zwischen 1882 und 1914 hatte, dann bekommen die Parallelen zwischen 1914 und 2014 erst eine ungeahnte Schärfe. Der Konflikt zwischen Weltmarkt und Staatenordnung, der sich bei Diner in dem Konflikt zwischen islamischem "Außenrecht" und gottesstaatlichem Expansionismus spiegelt, wird derzeit wieder verstärkt kulturalisiert. Aber es bleibt die gleiche Konstellation.

Ähnlich wie Dan Diner beschäftigt sich Saskia Sassen in "Das Paradox des Nationalen" (2006, deutsch bei Suhrkamp, 2008) mit den komplexen Logiken, denen die Staatlichkeit in einer Welt ohne Systemkonkurrenz (Kalifate einmal ausgenommen) unterliegt. Bei Fukuyama war die Gleichung relativ einfach: Markt und Demokratie gingen Hand in Hand, je mehr Markt durch den Wegfall der riesigen sozialistischen Enklave wurde, mit desto mehr Demokratie war zu rechnen. Bei Sassen tauchen Phänomene auf, die zu "neuen Organisationslogiken" und einer "Demontage des Nationalen" führen. Auch hier könnte man auf den ersten Blick wieder annehmen, dass eine solche Demontage eigentlich fortschrittlich sein müsste. Doch in Wahrheit ist die Sache ungeheuer komplex. Nicht zuletzt deswegen, weil Sassen sich auch sehr stark für die private Sphäre interessiert, deren Verhältnis zur öffentlichen für jede Zivilgesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Grob gesprochen wenden sich die Märkte an uns ja als an private Subjekte, und gerade in den letzten fünf, zehn Jahren erleben wir eine rapide Beschleunigung von Dynamiken, die zu einer internationalen (auch steuerlich die nationale Souveränität aushebelnden) Bewirtschaftung von Privatheit geführt hat.

Dies ist gleichsam die Kehrseite dessen, was Sassen unter dem Stichwort von "Assemblagen eines globalen digitalen Zeitalters" beschreibt. Sie stellt dabei fest, ähnlich wie Diner bei seiner Analyse des Weltmarktes, dass zum Beispiel die globalen Finanzmärkte sich keineswegs der Gesetzgebung entziehen. Sie sind ja, nicht zuletzt an konkreten Orten wie London, New York oder Hongkong, an territoriale Zusammenhänge gebunden. Da jedoch die Staaten zueinander in Konkurrenz stehen, entstehen jene Bedingungen, die einen entfesselten Weltmarkt etwa von Finanzprodukten mit sich bringen, mit dem private Interessen für sich eine Umgebung schaffen, die sich um das Gemeinwohl nicht mehr kümmert.

Sassen spricht von unterschiedlichen "Zeitlichkeiten" und einer speziellen Zeitlichkeit des Nationalen. Hier kommt 1989 noch einmal eine herausragende Bedeutung zu, weil das Datum auch verschiedene Erfahrungen erzählbar macht. Die osteuropäischen Länder wissen etwas, was der Westen, vor allem die beiden "imperialen" Nationen USA und England, schon vergessen hat: dass Unterdrückung eine reale Möglichkeit und Befreiung niemals vollständig ist. Die Ukraine mit schon zwei Revolutionen seit 1989 ist tatsächlich das Land, auf das die Welt schauen sollte. Denn hier sucht ein Gemeinwesen zwischen verschiedenen aktuellen "Imperialismen" nach einer tragbaren Rechtsordnung. 1989 ist so gesehen noch immer in vollem Gange, und die besten Bücher dazu sind erst noch zu schreiben. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 6.9.2014)