Bild nicht mehr verfügbar.

Junge Pioniere der DDR beim Pioniergruß: eine Szene aus "Helden wie wir" , der Verfilmung von 1999 des Wenderomans von Thomas Brussig.

Foto: dpa/Hubert Link

Bild nicht mehr verfügbar.

Den Mauerfall am 9. November 1989 bekam die ehemalige Ostdeutsche Angelika Klüssendorf nur beiläufig und via Fernsehbilder mit - "Ich bin nicht zur Mauer gegangen, diese Bilder von den glücklichen Menschen haben mich mit Scham erfüllt", sagt die heute 55-jährige Schriftstellerin.

Foto: AP/Lionel Cironneau

STANDARD: Sie beschreiben in Ihren Büchern "Das Mädchen" und "April" eine sehr eigenwillige Frau. Diese erlebt Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden unter schwierigen sozialen Bedingungen in der DDR und geht schließlich in den Westen. Würden Sie Ihre Romane als Ostromane sehen?

Angelika Klüssendorf: Teils, teils. Das Mädchen spielt in den Siebziger- und Achtzigerjahren. Diese Biografie habe ich gewählt, weil sie mir vertraut ist. Es könnte aber eigentlich überall leben, auch in Westdeutschland. Das Mädchen und auch das Buch April sind zuallererst der Sprache verpflichtet .

STANDARD: Parallelen zur eigenen Biografie sind unverkennbar. Das Mädchen wird später auch Schriftstellerin.

Klüssendorf: Natürlich gibt es autobiografische Züge. Auch ich habe meine Kindheit in Leipzig verbracht, und die von mir dargestellten Verhältnisse sind mir zumindest nicht fremd. Auf meinen Lesereisen werde ich übrigens auch immer wieder gefragt, ob ich ostdeutsche Romane schreibe.

STANDARD: Was antworten Sie?

Klüssendorf: Ich frage dann zurück, ob sie diese Fragen auch einem westdeutschen Autor stellen würden. Es gibt für mich keine Ost- oder Westromane, kein Buch verdient diese Kategorie und sollte weit darüber hinausreichen. Wenn über die DDR geschrieben wird, dann interessiert mich nicht das Historisierende, sondern das Relevante für die heutigen Weltverhältnisse. Inzwischen ist die DDR ja ein abgeschlossenes Gebiet, und solche Gebiete werden besonders gern erforscht oder benutzt - wie eine bestimmte Zeit aus der US-amerikanischen Geschichte für den Western.

STANDARD: In "April" wird die DDR dann aber doch deutlicher beschrieben.

Klüssendorf: Ja, April ist schon mehr mit der DDR verhaftet. Es ist schwer vorstellbar, dass sie woanders lebt. Sie lebt dort ja auch in ihren Strukturen, wird immer wieder psychisch und sozial aufgefangen. April ist in der Lage, sich Hilfe zu holen, und es wird ihr auch immer wieder geholfen. Man kann sagen: Sie und ich haben großes Glück gehabt. Aber sie lernt auch den Obrigkeitsstaat kennen.

STANDARD: Welche Kindheitserinnerungen an den Osten haben Sie heute noch?

Klüssendorf: An Gerüche. Das ist wie bei Marcel Proust, der sich gut dann an seine Kindheit erinnern konnte, wenn er Madeleines, das Gebäck seiner Kindheit, aß. In den Ostländern finde ich manchmal noch diesen Benzingeruch und auch überall ein bestimmtes Unkraut, das in der Heide, aber auch an den Straßenrändern wächst. Ich streife im Vorübergehen oft die winzigen Blüten ab.

STANDARD: Wann kamen Sie zum ersten Mal mit den Repressalien der DDR in Berührung oder bemerkten Einschränkungen?

Klüssendorf: Ich selber hatte keine Westverwandten und bekam daher auch nie Westpakete. Aber bei uns im Haus lebte eine ältere Dame, die wurde von ihrer Enkelin aus dem Westen besucht. Wir Kinder spielten miteinander und verabredeten, dass ich sie eines Tages auch besuchen würde. Aber es war mir als Siebenjähriger damals schon völlig klar, dass das erst im Rentenalter sein würde, weil ich ja vorher nicht hätte ausreisen dürfen. Das war ein irrealer Moment. Man bekam also schon sehr früh ein Gefühl für die Enge, die in der DDR vorherrschte.

STANDARD: Haben Sie damals gefragt, warum das Mädchen aus dem Westen reisen durfte und Sie selber nicht?

Klüssendorf: Nein, damals nicht. Kinder nehmen so etwas ja als gegeben hin. Später dann, in der Schule, habe ich mich schon gefragt, warum der Kapitalismus so dämonisch dargestellt wird. Oder warum ein Kapitalist böse sein soll, weil er ein Auto besitzt, schließlich gab es auch im Osten Autofahrer. Das waren so ganz naive Kinderfragen, aber sie sind mir nie wirklich schlüssig beantwortet worden.

STANDARD: Sie - wie später auch April im Buch - stellten dann einen Ausreiseantrag, der nach zwei Jahren positiv beschieden wurde. Warum wollten Sie aus der DDR weg?

Klüssendorf: April und ich haben ein großes Unrechtsbewusstsein. Ich wollte mir einfach nicht diktieren lassen, in welchem Land ich zu leben habe. Oder mir von den Vopos (Volkspolizisten, Anm.) sagen lassen: Du darfst hier nicht raus. Der Gedanke, dass hier ein ganzes Land von einer Mauer umschlossen ist, war unerträglich. Ich wollte auch der "Erzieherhaltung" entkommen und mich nicht mehr betreuen lassen. Statt Führung wollte ich Freiheit probieren.

STANDARD: In Leipzig haben Sie das Untergrund-Literaturblatt "Anschlag" herausgebracht und einmal ein Zitat von Voltaire auf die erste Seite gesetzt: "In manchen Ländern hat man angestrebt, dass es einem Bürger nicht gestattet ist, die Gegend, in der er zufällig geboren ist, zu verlassen."

Klüssendorf: Ich habe die Untergrundmappen nicht zuallererst aus politischen Gründen herausgebracht, sondern um etwas gegen die Langeweile in meinem Leben zu unternehmen. Ich wollte bunte Farbe in meinen Alltag bekommen. Erst später, als ich meine Stasi-Akten einsah, merkte ich, dass die Staatssicherheit das alles sehr wohl sehr ernst genommen hat. Das war mir so nicht klar gewesen.

STANDARD: Zu bleiben und sich in der DDR-Opposition zu engagieren, hatten Sie nie im Sinn?

Klüssendorf: Nein. Ich weiß, dass viele Oppositionelle daher auf diejenigen, die Ausreiseanträge stellten, nicht gut zu sprechen waren, weil sie dachten, wir lassen sie im Stich. Aber für mich stand im Vordergrund das Recht, dorthin gehen zu können, wo ich hinwollte. Ideologien haben mich immer misstrauisch gemacht. Auch hat mich in den "Künstlerzirkeln" die Doppelbödigkeit der Gespräche gestört - oft wurden für die einfachsten Mitteilungen verquaste Metaphern benutzt, die ich einfach nicht entziffern konnte.

STANDARD: 1985 gingen Sie mit Ihrem Partner und Ihrem kleinen Sohn nach Westberlin. Warum dorthin und nicht nach München oder Hamburg?

Klüssendorf: Westberlin konnte man sich weiterdenken. Die Straßen dort führten zwar zur Mauer, aber dahinter geradewegs nach Ostberlin. Das war mir damals schon wichtig.

STANDARD: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Ausreise? Sie wussten, dass Ihnen danach der Weg zurück versperrt war.

Klüssendorf: Ich wurde kurz vor meiner Ausreise noch von der Polizei aufgegriffen, weil ich mit blauer Haarfarbe aus dem Westen Zahlen an eine Hauswand sprayte. Die waren als Abschiedsgruß für einen Freund gedacht, aber die Polizei hielt das für geheime Parolen. Sie verhörte mich stundenlang, ließ mich dann aber laufen, als ich ihnen erklärte, ohnehin eine Ausreisegenehmigung zu haben. Ich war einfach nur noch froh, im wahrsten Sinne des Wortes davongekommen zu sein. Und vor dem Westen hatte ich zunächst einmal Angst.

STANDARD: Warum und wovor?

Klüssendorf: Natürlich war die ganze DDR-Propaganda auch an mir nicht spurlos vorübergegangen. Ich stellte mir den Westen sehr kalt vor, die Wände gekachelt, die Menschen parfümiert, ganz ohne Eigengeruch. Das bezog sich allerdings nur auf Westdeutschland. Spanien habe ich mir damals schon deutlich schöner vorgestellt. In den ersten drei Monaten, als ich in Berlin-Marienfelde im Aufnahmelager lebte, hatte ich großes Heimweh - auch nach meiner Leipziger Leberwurst.

STANDARD: Versuchten Sie, Ihre Freunde in der DDR zu besuchen?

Klüssendorf: Klar habe ich versucht, meine Freunde zu besuchen, wurde aber immer wieder abgewiesen. Wie ich in meinen Akten später nachlesen konnte, hätte dieses Verbot noch Jahre angehalten.

STANDARD: 1989 wurde der Unmut der DDR-Bürger immer größer. Wie haben Sie das - und danach den Mauerfall am 9. November - mitbekommen?

Klüssendorf: Zuerst nur sehr beiläufig über die Fernsehbilder. Als die Mauer dann fiel, war das schon eine Mischung aus Freude und Unglauben. Aber ich bin nicht zur Mauer gegangen. Denn ich habe, wieder im Fernsehen, diese Bilder von den glücklichen Menschen gesehen, und das hat mich mit Scham erfüllt. Die dachten alle, jetzt laufen sie in die große Freiheit. Aber dass da noch viele Komplikationen kommen würden, wollte niemand sehen.

STANDARD: Für viele war dieser November 1989 einfach nur ein großartiger Moment, an den sie nicht mehr geglaubt haben.

Klüssendorf: Aber diese Wahrnehmung hatte ich erst später: dass Politiker aus dieser Freude wenig gemacht haben. Wenn man sich heute noch einmal diese Bilder ansieht - was für ein Potenzial und welche Begeisterung da waren -, dann denke ich mir, da hätte man mehr draus machen können. Die Dinge langsamer angehen, die Ostdeutschen besser in den Einigungsprozess integrieren. Westdeutsche kamen in den Osten, besetzten mit einem Selbstbewusstsein, das den Ostdeutschen noch fehlte, die Plätze. Später dann holten die Westdeutschen die Westdeutschen nach, das war ein unguter Kreislauf.

STANDARD: Wollten Sie nach der Wende irgendwann wieder zurück in den Osten?

Klüssendorf: Nein, um Gottes willen. Ich hatte mir Westberlin erobert, das waren zum Teil auch sehr harte Zeiten. Das wollte ich nicht mehr aufgeben. Es ist auch die einzige Stadt in Deutschland, in der ich leben möchte. Und Heimat ist für mich sowieso dort, wo die Post ankommt.

STANDARD: Jetzt wohnen Sie in einem kleinen brandenburgischen Dorf, also doch wieder im Osten.

Klüssendorf: Man kann von dort schnell nach Berlin fahren, aber es ist natürlich viel ruhiger auf dem Land. Mein Dorf ist sehr sozialisiert, es gibt ein Jägerfest, die meisten haben Arbeit, und man muss seine Zäune von Unkraut freihalten. Das ist ganz wichtig! (lacht)

STANDARD: Was ist für Sie von der DDR geblieben?

Klüssendorf: Das legendäre Spülmittel Fit und die wunderschönen Landschaften im Osten Deutschlands. Mir ist es unverständlich, dass viele Westdeutsche dort überhaupt noch nie waren. Andererseits erlebe ich auf meinen Lesungen eine große Neugierde und nach wie vor großes Interesse an der DDR. Ich lese ja mehr im Westen, weil jetzt generell im Westen mehr gelesen wird. Früher war das anders, da war der Osten vorne. Aber die Leute kaufen dort nicht mehr so viele Bücher wie früher, die haben immer noch Nachholbedarf an allem anderen. Allerdings gibt es im Westen auch immer noch recht unglaubliche Vorstellungen über die DDR.

STANDARD: Welchen Klischees begegnen Sie nach wie vor?

Klüssendorf: Manche Leute glauben, dass in der DDR die Straßen immer voll mit Stasi waren, die alles ständig im Blick hatte. Das ist natürlich Blödsinn. Auch in der DDR hatten die meisten Bürger einen völlig unspektakulären Alltag. Aber am meisten nerven mich die Alt-68er im Westen, die immer noch finden, dass der Sozialismus das bessere System ist. (Birgit Baumann, Album, DER STANDARD, 6./7.9.2014)