Wien wird in den nächsten 15 Jahren stärker wachsen als andere europäische Städte.

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Wien - Schon heute ist Wien die siebtgrößte Stadt in der EU und nach Berlin die zweitgrößte deutschsprachige Stadt. Die Wiener Bevölkerungsexplosion der nächsten 15 Jahre wird sich in einem Maß vollziehen, das in ganz Europa seinesgleichen sucht.

Bis 2029 wird die Hauptstadt die Zwei-Millionen-Einwohner-Marke überschreiten. Im Ballungsraum wird die Zahl bis 2025 laut einer UN-Habitat-Studie auf knapp 2,5 Millionen klettern. Der Vergleich zeigt: Wien wird stärker als alle anderen europäischen Stadtregionen wachsen.

Wie kann dieser kometenhafte Bevölkerungsanstieg erklärt werden? Karina Pallagst, Professorin für internationale Planungssysteme an der TU Kaiserslautern in Deutschland, sieht die Kombination aus kultureller und wirtschaftlicher Attraktivität als maßgeblich für Wiens Zuwachs. Die Stadt habe in Europa außerdem seit jeher eine einzigartige Brückenfunktion: Sie verbinde den Westen mit dem Osten.

"Was Wien im Vergleich zu anderen Städten anziehend macht, ist, dass es leistbar ist", sagt Rudolf Scheuvens, Professor für Raumplanung an der TU Wien. Viele Metropolen, London zum Beispiel, seien unbezahlbar geworden. Hohe Mieten und Lebenshaltungskosten verdrängten die Menschen. Wien werde hingegen ein breit gefächertes Spektrum an Zuwanderern - Fachkräfte wie Bildungsferne, aus den Bundesländern wie aus dem Ausland - anziehen. Außerdem sei mit einer gesteigerten Geburtenrate zu rechnen, vor allem bei den internationalen Zuwanderern.

Stockholm einst an der Spitze

In den letzten zwanzig Jahren waren die skandinavischen Städte Anführer unter den europäischen Expansionsgiganten. Lange stand Stockholm an der Spitze - um knapp dreißig Prozent konnte die Stadt seit 2001 an Einwohnern zulegen. Ebenso haben sich Madrid und Barcelona auf den vorderen Plätzen positioniert. In Spanien ist vor allem die hohe Arbeitslosigkeit für die Abwanderung aus strukturschwachen Regionen verantwortlich.

Auch Berlin wird nicht mithalten können: Die deutsche Hauptstadt wird sich bis 2030 von 3,5 auf etwa 3,7 Millionen Einwohner vergrößern. "Berlin ist zwar das politische Zentrum Deutschlands, aber nicht das wirtschaftliche", sagt Pallagst. Der günstige Immobilienmarkt bot viele Jahre Anreize. Explodierende Mieten und Arbeitsplatzmangel werden das Wachstum aber verlangsamen, der Druck auf den Speckgürtel indes wird steigen. "Verdrängungsprozesse sind stark spürbar", sagt auch Scheuvens, "die Stadt hat kein Instrumentarium mehr, um reagieren zu können."

Eingriff in den Wohnungsmarkt

Wien dagegen habe in der Wohnpolitik eine Vorreiterrolle inne. Auf europaweit einzigartige Weise greife die Stadt aktiv in den Markt ein. "Eine Stadt, die nicht vorausschauend plant, die keine Vorsorge schafft, wird zwangsläufig teurer werden", sagt Scheuvens. Darum seien die Mietpreise hierzulande nicht so stark gestiegen wie in anderen Regionen, die einem ähnlichen Wachstumsdruck unterliegen - München zum Beispiel.

Die bayerische Metropole ist die heimliche Nebenbuhlerin im Wettbewerb der steigenden Stadtpopulationen. Als Wirtschaftsstandort mit kulturellem Potenzial und Alpennähe weist sie eine hohe Anziehungskraft auf. Im letzten Jahrzehnt ist München sogar noch rasanter gewachsen als Wien und wird sich bis 2030 von aktuell 1,3 auf über 1,5 Millionen Einwohner vergrößern.

München wird daher mit ähnlichen Herausforderungen wie Wien konfrontiert sein, insbesondere was Wohnen und Verkehr betrifft. Während Wien in neue Stadtteile investiert, strebt München Verdichtungsmaßnahmen an. Das habe mit der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie in der Bauplanung zu tun, erläutert Pallagst. Die Politik wolle der fortgeschrittenen Verstädterung Einhalt gebieten: "Das 'Recyclen' vorhandener Flächen im innerstädtischen Bereich durch kompaktes Bauen ist ein nationales Ziel."

Schrumpfende Metropolen

Aus den Einwohnerhochrechnungen lässt sich ablesen, dass manche Städte schrumpfen werden - Prag und Budapest zum Beispiel. "In Osteuropa zeichnet sich eine starke Suburbanisierungswelle ab, der Druck auf die Peripherie wächst", sagt Scheuvens. Die Einkommensschere gehe immer weiter auseinander, viele verwirklichten ihren Traum vom Eigenheim außerhalb der Stadtgrenzen. Auch Rom und Mailand werden an Einwohnern verlieren. In Italien ist dafür ein flächendeckender demografischer Umbruch verantwortlich: Die Geburtenrate ist dramatisch zurückgegangen und wird weiter rückläufig sein.

Insgesamt weist der Trend in Europa trotzdem in Richtung Reurbanisierung: Die Menschen verlassen den ländlichen Raum. "Wirtschaftliche Leistungsfähigkeit generiert Zuzug", sagt Scheuvens. Die Renaissance der Städte wird die Politik allerorts vor neue Aufgaben stellen. (Anja Melzer, DER STANDARD, 5.9.2014)