Auszüge aus Fotoalben: oben ein Arbeiter in Vorarlberg, unten ein Kind, das in den 1980er-Jahren mit Freunden und seiner Mutter in Wels Geburtstag feiert.

Foto: Verein Jukus
Foto: Verein Jukus

Wien/Graz - "Ich habe immer gedacht, dass mein Mann und ich mit der Zeit reicher und glücklicher werden würden und dass sich die harte Arbeit einmal auszahlen würde. Aber jetzt sind schon 50 Jahre vergangen ..." Es ist die Bilanz einer in Wien lebenden türkischen Gastarbeiterin der ersten Generation. Seit dem Anwerbeabkommen mit der Türkei im Jahr 1964 ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Von den Menschen, die sich Österreich als Arbeitskräfte ins Land holte, weiß man bis auf wenige Daten dennoch wenig. Im Ausstellungsprojekt Avusturya! Österreich! blicken Wissenschafter, Sozialpädagogen und Künstler einmal gemeinsam hinter Stereotype und lassen die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Dafür haben Mitarbeiter des Grazer Vereins Jukus dreißig Interviews mit türkischen und kurdischen Migranten der ersten Generation in Wien, Nieder- und Oberösterreich, Tirol, der Steiermark und Vorarlberg geführt.

Als Oral-History-Dokumente in der jeweiligen Muttersprache sowie in deutscher Übersetzung geben diese Interviews nicht nur Einblicke in die Gefühls- und Lebenswelt einer problematisierten Bevölkerungsgruppe, sondern verweisen auch auf eine Leerstelle in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung.

Im Zuge der Ausstellung entstand auch eine Publikation mit wissenschaftlichen Analysen zu verschiedenen Aspekten der türkischen Immigration in Österreich. So rückt etwa der Sozialwissenschafter August Gächter vom Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) mit streng empirischen Methoden jenen Vorurteilen zu Leibe, auf die sich das "Wissen" über türkischstämmige Mitbürger oft beschränkt. "Die Diskussion braucht eindeutig mehr Zahlenmaterial", ist Gächter überzeugt. "Ich habe deshalb sehr emotional diskutierte Themen wie die geringe Erwerbstätigkeit von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund oder die Bildungsverweigerung türkischer Jugendlicher ausschließlich anhand der Daten des Mikrozensus abgehandelt".

Nur 40 Prozent der Frauen, die ihre Bildung in der Türkei erhielten, sind hierzulande erwerbstätig. Bei den meisten anderen Bevölkerungsgruppen sind es zwischen 60 und 80 Prozent. Auch unter den Frauen mit im Inland absolvierter Bildung haben jene mit Eltern aus der Türkei die niedrigsten Beschäftigungsraten - egal ob sie Kinder haben oder nicht. "Meist wird die geringe Erwerbstätigkeit der Frauen mit ihrem Kinderreichtum und der patriarchalen türkischen Kultur, also mit ihrer Herkunft erklärt", sagt Gächter. "Das ist falsch."

Schwierige Jobsuche

"Eine andere Hypothese geht dagegen von einer gleich großen Erwerbsneigung aus, die allerdings auf massive Diskriminierungserfahrungen trifft", sagt der Wissenschafter. Gestützt wird diese Aussage durch Daten, die von der Linzer Wirtschafts- und Genderexpertin Doris Weichselbaumer für Berlin erhoben wurden. Dabei wurde die gleiche schriftliche Bewerbung von einer "Sandra Bauer" und einer "Meryem Öztürk" verschickt. Die Bewerberin mit dem deutschen Namen wurde von rund 19 Prozent der Firmen zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, mit türkischem Namen wollten nur etwas über 13 Prozent der Angeschriebenen die junge Frau - von der in beiden Bewerbungsschreiben ein identisches Foto beilag - kennenlernen.

Wenn "Meryem Öztürk" mit Kopftuch abgebildet war, wurde sie nur noch von vier Prozent der Betriebe eingeladen. Die Situation in Österreich stellt sich erwartungsgemäß nicht viel anders dar: So werden laut der kürzlich veröffentlichten Studie von Weichselbauer zur "Diskriminierung von MigrantInnen am österreichischen Arbeitsmarkt" 37 Prozent aller österreichischen Bewerber zu einem Jobinterview eingeladen - von den türkischstämmigen Frauen und Männern bekommen nur 25 Prozent diese Chance.

Collagen mit Erinnerungen

Das Projekt nähert sich aber nicht nur von der wissenschaftlichen und dokumentarischen Seite an das türkische Leben in Österreich an, sondern auch von der künstlerischen: Lebensgroße Fotoporträts der Interviewten, Auszüge aus ihren privaten Fotoalben, gängige Sprüche und Witze ergänzen als aussagestarke Collagen biografischer Erinnerungsstücke die einzelnen Lebensgeschichten. An Hörstationen werden Briefe an die Zurückgebliebenen vorgelesen.

"Auch auf das Österreich der 1960er-Jahre haben wir einen Blick geworfen", so Organisator und Initiator Ali Özbas vom Verein Jukus, der selbst im Alter von 14 Jahren seinem Vater nach Österreich folgte. "Anhand von Zeitungsartikeln, Fotografien, Ton- und Filmaufnahmen soll man einen Eindruck davon bekommen, in welches Land die türkischen Gastarbeiter damals gekommen sind". Aber nicht nur Österreich hat sich im Laufe von 50 Jahren sehr geändert. "Mit dem Anwachsen der türkischen Community entstanden auch politisch, kulturell und religiös sehr unterschiedlich ausgerichtete Gruppierungen, was von den alteingesessenen Österreichern kaum wahrgenommen wird. Meist landen alle in einem Topf", sagt Ali Özbas. Eine Vereinfachung, die Vorurteilen den Weg ebnet.

Das Ausstellungsprojekt Avusturya! Österreich! will einen Eindruck von der Vielfalt der Alltagskulturen, den Tätigkeiten, Gedankenwelten und gesellschaftlichen Schichten der türkischen Migranten und Migrantinnen liefern und setzt damit einen Schritt der Aufklärung und Aufarbeitung. (Doris Griesser, DER STANDARD, 3.9.2014)