Der Brite Eddie Marsan hält als John May die Erinnerung an die Toten wach: "Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit".

Foto: Polyfilm

Wien - Für die Toten ist der letzte Weg einfach. Doch für die Hinterbliebenen kommen nach dem Abschied die Erinnerungen, von denen es heißt, dass sie für das Weiterleben der Verstorbenen in dieser Welt sorgen. Solange es jemanden gibt, der sich der Toten erinnert, bleiben sie angeblich unter uns. Doch es gibt auch jene, derer niemand gedenkt, und sei es bloß deshalb, weil von ihrem Tod kein Angehöriger oder Freund erfahren hat. Dann versucht John May (Eddie Marsan), die Spur der Toten zurückzuverfolgen, bis er jemanden gefunden hat, der an seiner statt am Begräbnis teilnimmt. Bleibt seine Suche nämlich erfolglos, sitzt der schmächtige Sachbearbeiter für Sterbefälle allein in den Gotteshäusern der verschiedenen Konfessionen, und die Geistlichen lesen von ihm geschriebene Gedenkreden.

Denn zu oft findet sich in den Hinterlassenschaften kein einziger Hinweis auf zumindest entfernte Verwandte. Dann legt John May in seinem kleinen Arbeitszimmer bei der Londoner Stadtverwaltung die Dokumente zu den Akten, fährt nach Hause in seine penibel aufgeräumte Wohnung und klebt bedächtig ein Bild des Toten in ein Fotoalbum. Es ist ein Archiv der Vergessenen: In ihm finden sich Urlaubsfotos, Kriegsbilder, Porträts und Schnappschüsse, ausgelassene und ernst dreinblickende Menschen.

Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit lautet der deutsche Titel dieser britisch-italienischen Tragikomödie von Uberto Pasolini, der die doppelte Bedeutung des Originals, Still Life, nicht zur Gänze zu übersetzen vermag. Denn für John May geht es tatsächlich darum, nicht nur die Stille der Verabschiedungen mittels seiner Reden zu durchbrechen, sondern auch jene Stille, die sich über die Vergangenheit gebreitet hat. Als ihm sein Vorgesetzter süffisant erklärt, dass er seine Arbeit zu langsam erledige und er deshalb gekündigt werde, setzt May alles daran, seinen letzten Fall, den Tod eines einsamen alten Mannes, abzuschließen. Und er beginnt, wie bei einem Puzzlespiel, Stück für Stück dessen Vergangenheit zu rekonstruieren und sich selbst eine neue Zukunft aufzubauen.

Doch das erwartbare Ende, auf das die Erzählung zusteuern könnte, will nicht eintreten. Pasolini interessiert sich für die allzu menschlichen Verhaltensmuster im Alltag, für die kleinen Gesten und Befindlichkeiten, die einen Menschen als Individuum auszeichnen, und nicht für die großen Taten und Visionen. Das trifft auch auf John May zu, der ebenfalls nicht vor den Unwägbarkeiten des Lebens gefeit ist. Denn auch für einen Mann, dessen Tage wie ein Uhrwerk funktionieren, kann sich mit einem Schlag alles ändern. Und plötzlich ist der melancholische, beinahe traurige Grundton dieses Films zugleich ein optimistischer.

Vom Nachdenken über den Tod kann man viel über das Leben lernen. So wie John May im Laufe seiner Nachforschungen mit immer weiter geöffneten Augen seine Umwelt und seine Mitmenschen betrachtet, so reagieren diese auf ihn. Nur wer sich dem Leben öffnet, dem machen sich neue Türen auf. Man braucht sie nur zu durchschreiten. (Michael Pekler, DER STANDARD, 2.9.2014)