Kann ein Außenminister oder gar ein Regierungschef ein Phänomenologe sein? Doch, das geht. Es ist nur wahrscheinlich nicht gut. Denn wenn - sagen wir einmal - zehn Leute in einem Raum einen schwarzen Tisch sehen und der elfte, unser Phänomenologe, sagt: maybe, aber eigentlich eh wurscht, für mich gilt die innere Wahrnehmung, die nie trügt und die einen roten Stuhl erkennt - dann kann es also schwierig werden. Bei Lagebesprechungen im Außenministerium zum Beispiel, bei Gesprächen mit ausländischen Regierungsvertretern oder bei Presseauftritten, die zur Kommunikation mitunter etwas unerwarteter Einsichten dienen.

Der neue türkische Regierungschef und bisherige Außenminister Ahmet Davutoglu ist ein schwerer Husserlianer, heißt es jetzt. Anfang des Jahres lotete Scott Morrison in der Revue "The Muslim World" die philosophische Tiefe des Politikprofessors und Hobbyhistorikers Davutoglu aus. Einen "muslimischen Denker" nannte er ihn anerkennend, der Edmund Husserls Phänomenologie adoptierte und für seine islamische Interpretation der Welt adaptierte. (Der Beitrag ist online für rund 40 Dollar zu lesen.)

Bereits 2007 - Ahmet Davutoglu war damals der einflussreiche außenpolitische Berater von Regierungschef Tayyip Erdogan - erschien ein Aufsatz im "Asian Journal of Social Science", in dem Davutoglus "One-trick pony"-Phänomenologie präsentiert wird und die prinzipielle Unvereinbarkeit politischen Denkens in Abend- und Morgenland, die der spätere türkische Regierungschef daraus ableitet. Danial Mohamad Yusof, Dozent an der Internationalen Islamischen Universität Malaysia in Kuala Lumpur, an der auch Davutoglu Anfang der 1990er-Jahre lehrte, schlägt in seinem Aufsatz den Bogen zur politischen Legitimation im heutigen Malaysia, einem britisch-kolonialen Kunstprodukt mit indischen und chinesischen Minderheiten, was vor dem Hintergrund der heutigen Türkei nicht unspannend ist.

Für Davutoglu aber gilt: Er benutzt Husserls Konzept der Phänomenologie, um einen problembehafteten westlichen Rationalismus einem auf das Innere des Menschen bezogenen erkenntnistheoretischen Islam gegenüberzustellen. Husserl wird Argument und Werkzeug, um den westlichen Einfluss auf muslimische Gesellschaften und deren Wahrnehmung der Wirklichkeit zu problematisieren.

Wie stichhaltig das alles ist, mag in Politik- und Philosophieseminaren erörtert werden; im politischen Tagesgeschäft führt es zu atemberaubenden Widersprüchen: Entweder Ahmet Davutoglu hat ein Realitätsproblem, oder die zehn anderen im Raum haben eines. Seine Außenpolitik gilt als kompletter Fehlschlag, Davutoglu aber sieht sie als großartigen Erfolg, weit entfernt davon, auch nur an Kurskorrekturen zu denken.

Asli Aydintaşbaş, eine Kolumnistin der mittlerweile an sich handzahm gemachten liberalen Tageszeitung "Milliyet", hatte deshalb die Nominierung Davutoglus zum Premierminister vorausgesagt, während andere Kollegen nur mit dem Kopf schüttelten. Der Nahe Osten mag ein Sumpf geworden sein, in dem die Türkei nun versinkt, doch Davutoglu, sein Mentor Erdogan und der Rest der AKP denken ganz anders darüber, schrieb Aydintaşbaş. Sie alle halten die Politik der persönlichen Empörung (gegenüber Assad, Sisi, al-Maliki ...), der Unterstützung sunnitischer Islamisten und des Abbruchs diplomatischer Beziehungen (Syrien, Israel, Ägypten) einfach für glänzend.

Und sie haben ihre Erklärung für die Realität, die sie wahrnehmen: Der Westen hat den Coup in Ägypten gegen den gewählten Muslimbrüder-Präsidenten Morsi möglich gemacht (nicht: Morsi hat selbst seinen Teil dazu beigetragen, indem er den Staat islamisieren wollte und die Säkularen an die Seite drängte); Hamas wird immer noch nicht von Israel und dem Westen als politischer Gesprächspartner akzeptiert, und die Gaza-Blockade dauert an (nicht: die Hamas tut auch wenig, um als seriöser Gesprächspartner anerkannt zu werden, lässt ihren bewaffneten Flügel und andere Extremisten Raketen in den Gazastreifen schmuggeln und nach Israel abfeuern); und der Westen hat selbst die Ausbreitung der sunnitischen Extremisten in Syrien und im Irak bewerkstelligt, indem er nicht Assad stürzte (nicht: die türkische Regierung und ihr Geheimdienst tragen selbst mit Verantwortung für die Existenz der Terrorgruppe Islamischer Staat, indem sie sunnitische Islamisten, die in den syrischen Bürgerkrieg zogen, logistisch unterstützten).

Wo eine solche "innere Wahrnehmung" der Realität endet? In "imperialen Fantasien", sagt Behlül Özkan, Politikdozent an der Istanbuler Marmara-Universität und Ex-Student Davutoglus. "Die Schulzimmer-Erklärungen Davutoglus klangen oft mehr nach Märchen als nach politischer Analyse", schrieb Özkan dieser Tage in einem Beitrag für die "New York Times".

Özkan grub in früheren akademischen Papieren Davutoglus nach und fand, so sagte er in Interviews mit der Tageszeitung "Taraf" und dem Nachrichtenportal Al-Monitor, dass der fromme türkische Politikprofessor auch weidlich Anleihen bei Karl Haushofer, Halford Mackinder und Alfred Thayer Mayhan nahm - Theoretikern der Geopolitik in den 1920er- und 1930er-Jahren und (in Haushofers Fall) des "Lebensraums".

Er sei kein Neo-Osmane, verteidigte sich Davutoglu 2011 in einem Interview zu seiner Balkanpolitik. Die Türkei sei Teil des Balkans, eröffnete er gleichwohl seinen Fragestellern, und der Balkan habe seine "goldene Zeit" während des Osmanischen Reichs erlebt - "das ist eine historische Tatsache". Grußformeln an alle Hauptstädte der osmanischen Zeit, von Sarajevo bis Gaza und Tunis, gehören zum Standard der Reden, die Erdogan und sein neuer Premier schwingen; den Zuhörern sollen sie damit weltpolitische Bedeutung suggerieren und auch den Anspruch, die Türkei könne auf dem Balkan, im Kaukasus, Nahost und Nordafrika ein gewichtiges Wort mitreden.

Mit der vagen Formel von der "Restauration" - wovon? dem Osmanischen Reich? alter Größe? - sei Davutoglu nun auch als Premier angetreten, stellte der Kolumnist Semih Idiz fest. Oder vielleicht einer islamischen Großgemeinschaft aus der Zeit der Kalifen und Sultane? Behlül Özkan, der Ex-Student, beharrt auf diesem einen Unterschied: Davutoglu sei kein Neo-Osmane, sondern ein Pan-Islamist:

"Als Außenminister glaubte Davutoglu verbissen, der Arabische Frühling habe der Türkei endlich die historische Gelegenheit gegeben, diese Ideen in die Praxis umzusetzen. Er sagte voraus, dass die gestürzten Diktaturen durch islamische Regime ersetzt würden und so einen regionalen Gürtel der Muslimbruderschaft unter der Führung der Türkei bildeten."

Ein Videoclip, den die Regierungspartei AKP zur Inthronisierung Davutoglus als Premier in Auftrag gab, fasst in bemerkenswerter Offenheit Ahmet Davutoglus Kunst der Wahrnehmung zusammen: Gläubige in aller Welt umarmen, mit einem Vater in Gaza weinen, vom Rednerpult aus lehren - nicht mehr im Hörsaal, sondern auf internationalen Regierungskonferenzen. "Meine jahrhundertealten Träume gehen in Erfüllung", singt die Stimme im Hintergrund des Videos, "die Fahne wird wieder steigen, du bist die Hoffnung der Unterdrückten und der Opfer." In der Tat ein Phänomen. (Markus Bernath, derStandard.at, 1.9.2014)