Von blitzblanken Waschküchen, Blasmusik- Studios und SM-Spielstätten: Filmemacher Ulrich Seidl sucht die Abgründe seiner Landsleute diesmal wortwörtlich "Im Keller".

Foto: Festival Venedig

US-Star Kirsten Dunst kommt in Venedig derzeit ihrer Funktion als Werbeträgerin für das Modelabel Miu Miu nach. Das heißt zum Beispiel, am Nachmittag 10. Reihe fußfrei in einem Sommerkleidchen im eisgekühlten Kinosaal zu sitzen und ruhig zu bleiben, wenn während des Einlasses kurz dutzende Handycams auf eine gerichtet werden. Anlass ist die Premiere von zwei Kurzfilmen aus der 2011 gestarteten Serie "Women's Tales", mit der das Label Filmemacherinnen fördern will - aber auch die eigenen Produkte präsentiert. Das war schon ärgerlicher, weil penetranter als heuer. Aber auch die neuen Beiträge von Miranda July und Kim So Yong bleiben belanglos, so schnell aus dem Gedächtnis verflüchtigt, wie der Stargast danach aus dem Kino.

Die Filme selbst bauen aus solchen Geschäftsverbindungen inzwischen längst kleine Gags, wie in Peter Bogdanovichs altmodischer, aber erfrischender Verwechslungskomödie She's Funny That Way, wo ausgerechnet Rhys Ifans einen Schauspieler verkörpert, der auch eine Parfümlinie zu vermarkten hat.

Auf derart heitere Beiträge stößt man im heurigen Programm öfter als sonst. Manche Leute lachen auch Im Keller. So heißt Ulrich Seidls jüngstes Werk. Es führt in den Untergrund und fördert dort mehr oder weniger Abgründiges zu Tage - je nachdem, in welche Richtung die Hobbys, Obsessionen, Fantasien der Mitwirkenden gehen: ob einer da unten Nazi- Paraphernalia sammelt und für die Blasmusik übt oder nur jener Vergangenheit nachtrauert, als im kostspieligen Partykeller noch Gäste feierten; ob man in einem Stollen einen Schießstand besitzt, dort Sex hat oder die Modelleisenbahn im Kreis fahren lässt.

Alternierende Weltbilder

Im Film alternieren, wie für Seidl charakteristisch, wortlose Tableaux mit Annäherungen an spezifische Protagonisten, Protagonistinnen und Paare. Während die Männer dabei schnell einmal zur Verallgemeinerung neigen beziehungsweise ein Weltbild ausmalen, in dem sie die "Krone der Schöpfung" repräsentieren, konzentrieren sich die Frauen mehr auf die Vermittlung ihrer individuellen Lebenspraxis.

Zunächst wird man mit einigen Waffennarren konfrontiert, die zweite Hälfte dominieren heterosexuelle Paare mit BDSM-Vorlieben: eine Herrin und ihr "Ehesklave", eine Masochistin und ihr Partner. Deren ritualisierte Praktiken, zu denen nicht zuletzt unbewegte Stellungen gehören, sind in sich selbst schon bildgebende Verfahren mit ausgeprägter Ikonografie. Vielleicht rührt daher aber auch der Eindruck, dass der Seidl'sche Blick der Realität in diesem Film weniger abgewinnt als anderswo: an Gesten und unerwarteten Alltagsperformances, an produktiven Irritationen.

Aber wenn die Puppenmutter im blauen Morgenmantel wiederholt in den Keller geht, um dort einen täuschend echt wirkenden Säugling aus dem Karton zu heben und unter liebevollem Sprechen in den Arm zu nehmen, dann ist das immer noch berührend und verstörend zugleich.

Im Keller, sagte Seidl bei der Pressekonferenz, sei kein Dokumentarfilm, sondern ein Film, der die Wirklichkeit - und authentische Menschen - als Ausgangspunkt nimmt für Bilder und Szenen. Auch US-Filmemacher Joshua Oppenheimer definiert seine dokumentarische Arbeit als Intervention in der Realität: Vor rund zehn Jahren hat er begonnen, in Indonesien Interviews mit Tätern zu machen, die Mitte der 1960er-Jahre an der massenhaften Verfolgung und Ermordung angeblicher Kommunisten beteiligt waren.

Im Vorjahr stellte er den Dokumentarfilm The Act of Killing vor, in dem solche Täter ihre Akte erinnern, indem sie diese reinszenieren. The Look of Silence, der im Wettbewerb läuft, erweitert das Feld nun um die Perspektive der Hinterbliebenen von Opfern: Oppenheimer begleitet den Optiker Adi, der zwei Jahre nach der Ermordung seines Bruders geboren wurde und nun Männer aufsucht, die daran beteiligt waren.

Einmal sitzt ihm die Tochter eines Täters gegenüber, die ihren inzwischen dementen Vater pflegt. Nachdem sie gehört hat, was der Besucher gegen diesen vorzubringen hat, wird sie erst stumm. Dann bittet sie um Verzeihung. Es ist die einzige kleine Geste dieser Art, die Adi erlebt. Aber als Zeichen eines beginnenden, anderen Umgangs mit diesem immer verdrängten Teil der Geschichte, ist ihre Bedeutung groß. (Isabella Reicher aus Venedig, DER STANDARD, 30.8.2014)