STANDARD: Die Arbeitslosigkeit ist das vorrangige Problem Europas. Was läuft falsch?
Sennett: Das Problem ist, dass Globalisierung und High-Tech-Entwicklung dazu geführt haben, dass es in Europa nicht ausreichend Arbeit gibt. Und zwar unabhängig vom Konjunkturzyklus. Daher muss man die Frage stellen, wie man Arbeit schaffen kann.
STANDARD: Und wie?
Sennett: Im Kampf gegen die Krise am europäischen Arbeitsmarkt unterläuft den EU-Politikern ein schrecklicher Fehler, weil man sich auf kapitalistische Rezepte stützt. Eines davon ist die Hoffnung, dass Unternehmensgründungen die Beschäftigung erhöhen. Doch die Start-ups produzieren nicht genug Jobs.
STANDARD: Ist das nicht besser als gar keine Jobs?
Sennett: Das Problem ist, dass lediglich vier Prozent aller Start-ups im High-Tech-Bereich länger als 24 Monate überleben. Die meisten Neugründungen bestehen aus ein bis zwei hoch qualifizierten Personen, sie sind schlank aufgestellt und arbeiten sehr effizient.
STANDARD: Doch sie sind innovativ, und Neugründungen, die sich durchsetzen, schaffen auch Jobs.
Sennett: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Citibank in den USA beschäftigte zu Jahresbeginn 254.000 Personen. Facebook war zu diesem Zeitpunkt zwar zweieinhalb Mal so viel wert wie die Citibank, hatte aber nur 6.000 Beschäftigte. Das gilt für die meisten anderen Unternehmensgründungen in der New Economy auch. Warum kopieren wir dieses Modell in Europa, obwohl die Ausfallquote hoch und die Beschäftigung gering ist? Die New Economy ist keine kreative Zerstörung im Schumpeter'schen Sinn, sie ist nur eine Zerstörung und führt zu mehr Ungleichheit. Das ist für mich kein Fortschritt.
STANDARD: Was sind die Alternativen?
Sennett: Wir brauchen eine Wirtschaft im Gleichgewicht, in der nicht nur in "sexy" Bereiche, sondern in einfache Sachen investiert wird. Wir müssen die Jobs in der Produktion, die wir in die Dritte Welt exportiert haben, wieder zurückholen. Das geht nicht mit kapitalistischem Schickimicki, sondern mit Brot-und-Butter-Produktion. Bei Aufträgen sollte die lokale Produktion eine größere Rolle spielen, die mehr lokale Arbeit schafft. Das ist weniger effizient, doch es fließt Geld in die Wirtschaft. Dadurch entsteht ein Gleichgewicht.
STANDARD: Wie soll beispielsweise eine Textilproduktion aus Bangladesch wieder nach Österreich zurückgeholt werden?
Sennett: Mit Geld. Wenn notwendig, müssen wir diese Vorgangsweise unterstützen. Doch noch wichtiger ist, wieder mehr Augenmerk auf die Ausbildung der Arbeiterschaft zu legen und nicht so sehr auf die Universitäten. Wir brauchen viel mehr einfache technische Qualifikationen, produzieren aber eine Armada an Bachelors, die nicht beschäftigbar ist.
STANDARD: Sie haben auch über alternative Arbeitsformen geschrieben. Welche Modelle bevorzugen Sie dabei?
Sennett: Wir arbeiten beispielsweise in Großbritannien an einem Projekt, das auf einem niederländischen Modell basiert. Ein 40-Stunden-Job wird dabei von zwei Personen statt von einer gemacht. Auch hier kommt es zu einer öffentlichen Unterstützung der Einkommen, aber die beiden Beschäftigen zahlen natürlich Steuern.
STANDARD: Wenn zwei gleich viel schaffen wie zuvor eine Person, drückt das die Produktivität ...
Sennett: Das ist eine Fantasie. Der Punkt ist, dass die langen Arbeitszeiten eben nicht produktiv sind. Wir haben das untersucht, beispielsweise in der Werbe- und in der Biotechnologie-Branche. Stress und Erschöpfung beeinträchtigen die Motivation.
STANDARD: Wird die Gesellschaft die hohe Arbeitslosigkeit insbesondere in Südeuropa aushalten?
Sennett: Ich sehe da große Gefahren. Die Arbeitslosigkeit lässt politische Gruppen am linken und am rechten Rand des politischen Spektrums aufsteigen. Das ist wie in den 1930er-Jahren und sehr beängstigend. Nehmen Sie Griechenland, wo Syriza links und Goldene Morgenröte auf der rechten Seite großen Zuwachs von arbeitslosen Jugendlichen erhalten.
STANDARD: Und wohin führt das Ihrer Meinung nach?
Sennett: Das Ganze wird zu sozialen Unruhen führen. Doch das Interesse gilt nur den griechischen Anleihen, die wieder steigen, und Goldman Sachs ist glücklich. Für mich ist klar: Die nächste Krise ist unvermeidbar. Ein neuer Kollaps innerhalb von vier bis fünf Jahren ist aus meiner Sicht sehr wahrscheinlich. (Andreas Schnauder, DER STANDARD, 30.8.2014)