"Ach, weißt du noch, damals in den Siebzigern? Bei Ebbe konntest du mit dem Auto über den Damm fahren und direkt vor dem Mont Saint-Michel parken. Mitten im Watt! Das war echt lustig!" Es waren die Gezeiten, die die Länge des Besuchs vorgegeben haben. Mit der abendlichen Flut mussten die Autos verschwinden, wenn sie denn nicht vom steigenden Wasser hinweggerafft wurden, und der Klosterberg durfte sich seine untertags aufgegebene maritime Aura wieder zurückerobern.

Die oft gehörten Urlaubsanekdoten rund um den Mont Saint-Michel sind nun Geschichte – zumindest jene mit dem Auto im klatschnassen Sand. Am 22. Juli wurde nach dreijähriger Bauzeit eine fast 800 Meter lange Stelzenbrücke eröffnet, die das denkmalgeschützte Kloster nicht nur visuell, sondern vor allem auch ökologisch wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückführen soll. Im September wird das ungewöhnliche Brückenbauwerk eingeweiht. Der Weihwassertransport wird kein übermäßig langer sein.

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War der Mont Saint-Michael einst vier Kilometer vom Festland entfernt, sind es nun gerademal ein paar hundert Meter, die das Eiland von der Küste trennen. Durch den Damm konnte das Wasser des zäh fließenden Couesnon, der sich hier in einem breiten Delta ins Meer ergießt, nicht mehr ungehindert den Klosterberg umspülen.
Foto: EPA / YOAN VALAT

"Ich bin sehr glücklich mit der neuen Passerelle", sagt Père André Fournier. Der Pater mit Brille und Glatze gehört dem Orden von Jerusalem an, der die einstige Benediktinerabtei verwaltet, und ist einer von insgesamt 27 Einwohnern des Mont Saint-Michel. "Die Fußgängerbrücke ist nämlich nicht nur ein funktionales Bauwerk, sondern erlaubt den Besuchern auch einen neuen Zugang mit ganz neuen, wunderbaren Blicken auf den Berg. Für mich ist dieses Projekt ein Wunder."

Stoßgebet an Mutter Natur

Seine Schwärmerei hört sich an wie ein Stoßgebet an Mutter Natur. Nun, da die Brücke fertig gestellt sei, so Père André, könne der Mont endlich wieder seine volle Schönheit entfalten – hier, an der Kreuzung von Wasser, Wolken, Himmel, Wind und Gestein – und wieder zur Insel zurückmutieren. "Den Damm abzubrechen und die Autos aufs Festland zu verbannen, war eine überaus gute Idee", so André.

Und sie war nicht nur gut, sondern auch von allerhöchster Dringlichkeit. "Früher war der Mont Saint-Michel nur per Boot erreichbar, die Errichtung des Straßendamms vor rund 150 Jahren war so gesehen also keine schlechte Idee", meint Dietmar Feichtinger. Der nach Paris emigrierte Wiener Architekt hat den 2001 ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen und das Projekt bis zur Fertigstellung betreut. „Bloß konnte damals noch niemand ahnen, dass der Damm im Laufe der Jahrzehnte maßgeblich zur Versandung und Verlandung der gesamten Bucht beitragen würde.“

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Dass man den Geistlichen durch die Brücke ihren täglich zurückgelegten Weg verlängert habe, sei einer der zentralen Aspekte dieses Projekts, meint Architekt Dietmar Feichtinger: "Nun kann sich der Blick auf einen fast freistehenden Klosterberg entfalten, ohne dass einem unentwegt Touristen vor die Kamera hüpfen."
Foto: APA / MICHAEL ZIMMERMANN

War der heilige Michael einst noch vier Kilometer vom Festland entfernt, sind es nun gerademal ein paar hundert Meter, die das Eiland von der Küste trennen. Durch den Damm konnte das Wasser des zäh fließenden Couesnon, der sich hier in einem breiten Delta ins Meer ergießt, nicht mehr ungehindert den Klosterberg umspülen. Die angeschwemmten Sedimente wurden immer und mehr, die Ebbezeiten immer trockener.

"Wenn wir nichts unternommen hätten, wäre der Mont Saint-Michel in spätestens 40, 50 Jahren von öden, trockenen Salzwiesen umgeben", erklärt Patrick Morel, Bauherrenvertreter und Vorstandsdirektor des Syndicat Mixte Maître d’Ouvrage, im Gespräch mit dem Standard. "Damit wäre das im elften Jahrhundert errichtete Kulturdenkmal, das seit 1979 als Unesco-Weltkulturerbe firmiert, stark bedroht gewesen. Das wieder um hätte enorme Folgen für den Tourismus und somit für die Wirtschaft der gesamten Region", ganz zu schweigen vom Untergang eines so sensiblen maritimen Ökoreservats mit all seinen Sandkrabben, Napfschnecken und Wattwürmern.

Langer Fußweg für Brüder und Schwestern

Père André blickt mit einem seligen Lächeln über die Bucht, als würde er sich im Schoße Gottes wiegen, hinaus auf den Steg. Krabben, Schnecken, Wurmgetier – allesamt gerettet. Seine einzige Sorge gilt dem etwas längeren Weg als zuvor, denn anstatt schnurgerade auf den Mont zuzugehen, muss er nun einen etwas längeren, s-förmig geschwungenen Weg in Kauf nehmen. Rund 45 Minuten dauert der Fußmarsch vom Parkplatz, langsamen Schrittes und fotografierend wohlgemerkt. "Für Pilger und Touristen ist das schon okay, aber für uns Brüder und Schwestern, die wir hier wohnen? Das stimmt mich nachdenklich."

Dass man den von manch Geistlichem täglich zurückgelegten Weg verlängert habe, sei einer der zentralen Aspekte dieses Projekts, meint Feichtinger. "Früher hat man sich dem Mont in einer geraden Achse genähert und hat dabei immer nur die Straße mit ihren Autos, Shuttlebussen und tausenden Passanten gesehen. Durch den Schwung können sich nun Blicke auf einen fast freistehenden Klosterberg entfalten, ohne dass einem unentwegt Touristen vor die Kamera hüpfen."

Pracht vor der Passerelle

Und klick. Ohne jeden Zweifel gilt die Hauptaufmerksamkeit dem romanischen Mont Saint-Michel, der sich nach einer leichten Linkskurve auf halbem Wege in seiner vollen Pracht vor der Passerelle aufbäumt. Die Brücke wird zu diesem Zeitpunkt unsichtbar. Unauffällig duckt sie sich ins Naturschutzgebiet und begnügt sich bei all ihrer Schönheit und konstruktiven Ästhetik wohlwollend mit dem zweiten Platz.

"Diese Brücke ist wie ein Werkzeug Gottes", sagt Pater André. Von einer sehr sensiblen Verschmelzung von Stahl und heimischer Eiche indes spricht Architekt Feichtinger. Zwar hätte man auch tropische Hölzer verwenden können, die womöglich eine etwas längere Lebensdauer haben, doch dies wäre in diesem sensiblen Ort ein allzu fremder Eingriff gewesen. Nach 40 bis 80 Jahren, zeigt die Erfahrung, werde man die Eichenbohlen unter den Füßen der Fußgänger – das Material findet sich übrigens auch auf der Außenhaut der Shuttlebusse wieder – austauschen müssen.

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Ohne jeden Zweifel gilt die Hauptaufmerksamkeit nun wieder dem romanischen Mont Saint-Michel, der sich nach einer leichten Linkskurve in seiner vollen Pracht aufbäumt. Die Brücke wird zu diesem Zeitpunkt unsichtbar.
Foto: APA / MATHIAS NEVELING

Der Querschnitt der Brücke ist asymmetrisch. Auf der einen Seite gibt es einen schmalen, 1,50 Meter breiten Fußweg für Alleinmarschierende und vielleicht auch für verliebt dahinschlendernde Pärchen, so Feichtinger. Auf der anderen Seite hingegen, mit Blick auf den offenen Atlantik, stehen 4,50 Meter Breite zur Verfügung, um jene sommerlichen Horden aufzunehmen, die den Weg per pedes dem motorischen Dahinge shuttle vorziehen. Und davon wird es eine Menge geben. Mit rund 2,5 Millionen Besuchern pro Jahr gilt die Abtei nach Paris als beliebtestes Touristenziel Frankreichs.

Schwebendes Leichtgewicht

Knapp 140 Stahlpfähle stützen den flach über dem Boden schwebenden Steg, wobei jeder einzelne Bohrpfahl bis zu 30 Meter tief ins Watt gerammt werden musste. Aufgrund der großen Stützendichte im Untergrund konnte diesseits der Wasseroberfläche auf dicke, mächtige Brückenkonstruktionen oder gar Fachwerke verzichtet werden. Und tatsächlich: Mit 1.800 Tonnen Gesamtgewicht ist die Passerelle zum Mont Saint-Michel geradezu ein Brückenleichtgewicht. Die Gesamtnettobaukosten belaufen sich auf 31 Millionen Euro brutto.

"Wissen Sie", meint Père André Fournier zum Abschluss, "gut Ding braucht Weile, sehr viel Weile. Jetzt einmal ist die Brücke fertig, und damit ist schon der größte Weg zurückgelegt. In den kommenden Monaten wird nun der alte Damm abgebrochen." Im April nächsten Jahres soll das Projekt abgeschlossen sein. Bis 2025, so die Prognose, soll das Ökosystem in der Bucht wieder intakt sein. Die Flutwassertiefe wird dann 70 Zentimeter betragen. (Wojciech Czaja, Album, DER STANDARD, 30.8.2014)