Massenhinrichtungen, Vertreibung von Minderheiten und ein scheinbar unaufhaltsamer Vormarsch im Irak: Die radikalislamische Gruppe "Islamischer Staat" (IS) verbreitet weltweit Angst und Schrecken. Lange wurde die von Abu Bakr al-Baghdadi geleitete Gruppe als Al-Kaida-Ableger oder Al-Kaida-Splittergruppe bezeichnet. Doch die Beziehung der IS und der Al-Kaida ist komplizierter und reicht mehr als ein Jahrzehnt zurück.

Obwohl beide Gruppen die Gründung eines weit ausgedehnten Kalifats als Endziel anstreben, bekämpfen sich die Anhänger beider Organisationen derzeit auf dem Schlachtfeld in Syrien. Die Gräben zwischen beiden Gruppen sind tief und spiegeln teilweise die unterschiedlichen Persönlichkeiten ihrer getöteten Gründer wider: Osama bin Laden und Abu Musab al-Zarqawi. Bin Laden stammte aus der saudischen Oberschicht, hatte ein abgeschlossenes Universitätsstudium. Zarqawi hingegen hatte einen wesentlich bescheideneren Hintergrund.

Beide waren jedoch Veteranen des Afghanistan-Kriegs gegen die Sowjetunion in den 80er-Jahren. In dieser Periode betrieb Bin Laden Trainingscamps in den von den Taliban kontrollierten Gebieten. Sein Vermögen war seine Eintrittskarte, verschaffte ihm Legitimität, Ansehen und Kontakte.

Es waren die späten 90er – Zarqawi war durch eine Gefängnisamnestie gerade aus der Haft in seiner Heimat Jordanien freigekommen –, als sich seine und Bin Ladens Wege kreuzten. Gemeinsam mit anderen Entlassenen wollte Zarqawi sein eigenes Trainigscamp in Herat errichten und gründete die Jamaat at-Tawhid wa-l-Jihad. Doch ohne Geld kein Trainingscamp – so entstand der Kontakt mit Bin Laden. Wurde Zarqawi von Bin Laden zunächst misstrauisch gesehen – er betrachtete den Jordanier als Rowdy und nicht für die globale jihadistische Bewegung geeignet –, unterstützte er ihn nach Vermittlung durch den Ägypter Saif al-Adel dennoch finanziell. Bin Ladens Ziel war offensichtlich: Er wollte Zarqawi und seine Anhänger in die Al-Kaida aufnehmen. Ein Versuch, der anfänglich scheiterte, Zarqawi lehnte einen Treueschwur – eine sogenannte "Bai'a" – ab.

Al-Kaida wuchs und wuchs, kofinanzierte den bewaffneten Jihad in Bosnien und Tschetschenien, verübte Anschläge auf der ganzen Welt und war spätestens nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ein weltweit bekannter Name. Erklärtes Ziel war der Kampf gegen den Westen. Der Sturz arabischer Regime wurde zwar auch angestrebt, war aber nur Teil der globalen Strategie. Zarqawis damals weitgehend unbekannte und unbedeutende Organisation strebte hingegen zunächst den Sturz der jordanischen Monarchie an, um dann erst später den Westen zu besiegen. Ein ideologischer Unterschied, der bis heute nachwirkt.

Verschmelzung

Es brauchte erst eine US-Invasion im Irak im Jahr 2003, damit die beiden wieder an einem Strang zogen. Al-Kaida, die in Afghanistan und Pakistan durch US-Angriffe zunehmend unter Druck kam, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Strategie entwickelt, lokale Ableger zu gründen.

Zarqawi, bis zu seinem Engagement im Irak weitgehend unbekannt, irrte bis dahin zwischen dem Iran, dem Irak und Syrien umher und knüpfte Kontakte, die sich nach dem US-Einmarsch im Zweistromland bezahlt machen sollten.

Zahlreiche von ihm selbst durchgeführte Enthauptungen, Attentate auf schiitische Heiligtümer, aber auch auf Sunniten, machten ihn in kürzester Zeit zu einem gefürchteten Namen im irakischen Bürgerkrieg. Als Resultat wollten sich ihm zahlreiche Jihadisten aus dem In- und Ausland anschließen – ein Vorhaben, für das Zarqawi auch Geld und Ressourcen benötigte. Gleichzeitig wollte Bin Laden, der nach wie vor beides besaß, dem bewaffneten Aufstand gegen die US-Besatzung im Irak seinen Stempel aufdrücken. Es war jener Punkt, an dem sich die Interessen beider Männer trafen: Im Oktober 2004 schwor Zarqawi öffentlich den lange geforderten Treueeid (Bai'a) auf Bin Laden und nannte seine Gruppe fortan "Al-Kaida im Zweistromland".

Dem Schwur gingen monatelange Verhandlungen voraus, Zarqawi bekam Zugang zu privaten Spendern, Rekrutierungsnetzwerken und Know-how von Al-Kaida. Zarqawi wusste das Netzwerk zu nutzen und zog eine ganze Generation an jungen Jihadisten im Irak heran, die ihm – und nicht Osama bin Laden – verbunden waren. Ein Faktor, der bei der späteren Spaltung der beiden Organisationen eine wichtige Rolle spielen sollte.

Trotz der Vermählung von Zarqawis und Bin Ladens Organisationen traten schon bald die ersten Risse in der Beziehung auf. Während für Zarqawi der einzige Weg, den "wahren Islam" zu retten, darin bestand, die Religionsgemeinschaft von "unreinen" Elementen zu säubern, und er damit auch die Brutalität gegen Sunniten rechtfertigte, war für die Spitzenideologen von Al-Kaida vor allem der Einfluss der Ungläubigen aus dem Westen das Problem.

Der Al-Kaida-Führung in Afghanistan war das Gebaren ihrer Kämpfer im Irak zu brutal. In mehreren Briefen warnten die Al-Kaida-Anführer Zarqawi, die strikte und extremistische Auslegung und Durchsetzung der Scharia zu reduzieren. Auch die rücksichtslose Vorgehensweise gegen Sunniten, die sich nicht der Al-Kaida im Zweistromland unterwerfen wollten, lehnte Bin Ladens Führungskader ab.

Von dieser Kritik unbeeindruckt führten Zarqawis Kämpfer die von Folter und willkürlichen Hinrichtungen geprägte Strategie fort und institutionalisierten die Gewalt im Irak weiter: Anfang 2006 gründete Zarqawi den sunnitischen "Majlis Shura al-Mujahedin" (Mujahedin-Rat, MSM), an dessen Spitze der irakische Al-Kaida-Ableger stand, und verankerte so seine Gruppe stärker in der arabisch-sunnitischen Bevölkerung des Irak.

Mitte 2006 wurde der nun gefürchtete und bekannte Abu Musab al-Zarqawi von US-Truppen getötet. Ein wichtiges Ereignis nicht nur für die US-Besatzer, sondern auch für die Führung von Al-Kaida. Denn Treueschwüre wie jener, den Zarqawi auf Bin Laden leistete, erlöschen mit dem Tod eines der beiden. Folglich war das der erste Zeitpunkt, an dem die Allianz zwischen der Al-Kaida-Führung in Afghanistan und dem "Majlis Shura al-Mujahedin" theoretisch nicht mehr an einen Treueeid gebunden war – "Bai'as" können nicht gegenüber Organisationen, sondern nur gegenüber Personen geleistet werden.

Praktisch ging die Zusammenarbeit zwischen beiden aber weiter, und im Oktober 2006 wurde der "Islamische Staat im Irak" (ISI) unter Führung von Abu Omar al-Baghdadi ausgerufen. Der neu gegründete "Staat" führte seine brutale Strategie – auch gegen Sunniten – weiter fort und verlor deswegen weiter an Unterstützung in der sunnitischen Bevölkerung des Irak. Auch das Verhältnis zur Al-Kaida-Spitze wurde immer distanzierter. Auch Abu Omars Nachfolger an der Spitze des ISI, Abu Bakr al-Baghdadi, leistete nie einen öffentlichen Treueschwur auf den Anführer von Al-Kaida.

Der endgültige Bruch erfolgte jedoch im April 2013, als Abu Bakr al-Baghdadi, der den Islamischen Staat im Irak seit 2010 führt, seine Fühler nach Syrien ausstreckte und seine Organisation in "Islamischer Staat im Irak und der Levante" (ISIL) umbenannte. Damit trat er in offene Konkurrenz zum syrischen Al-Kaida-Ableger "Jabhat an-Nusra". Jabhat-an-Nusra-Anführer Abu Muhammad al-Jawlani war ebenso wenig begeistert wie Al-Kaida-Chef Ayman az-Zawahiri. Öffentliche Kritik an seiner Person lehnte Baghdadi empört ab. In einer Audiobotschaft sah er sich selbst und nicht Zawahiri als wahren Erben Bin Ladens.

Im Frühjahr 2014 wurde die Trennung offiziell: Al-Kaida-Chef Zawahiri verkündete, dass ISIS nicht mehr Teil von Al-Kaida sei. Es war dieser Zeitpunkt, als alle Unterschiede der vergangenen Jahrzehnte zutage traten.

Paradoxon

Doch trotz dieser Spaltung zwischen IS und Al-Kaida scheint die globale jihadistische Bewegung nicht geschwächt zu sein. Im Gegenteil: Es ist ein Paradox, dass, obwohl die beiden größten jihadistischen Organisation einander offen bekämpfen, noch nie so viele potenzielle Jihadisten so effektiv rekrutiert worden sind. (Stefan Binder, derStandard.at, 5.3.2015)