Unlängst überfuhr ein Autofahrer eine rote Ampel in der Nähe unserer alten Highschool, stieß mehrere Studenten nieder und fuhr davon, ohne anzuhalten und den Verletzten zu helfen. Auf unseren Facebookseiten überschlugen sich die Kommentare darüber, was dieser Autolenker denn nicht für ein Monster sei. Und wir stimmten zu. Am nächsten Tag kam der Polizeibericht zu dem Vorfall heraus - die Bremsen am Leihwagen des Fahrers hatten versagt. Wir hatten angenommen, dass er fahrlässig oder gar böswillig gehandelt habe, tatsächlich aber hatte die Bremsanlage seines Mietwagens nicht funktioniert.

Es gibt eine starke psychologische Tendenz, die Handlungen anderer Personen deren Disposition (also ihrem Sein) statt der Situation (also anderen Faktoren, die das Ergebnis beeinflussen) zuzuschreiben. Dieses Vorurteil kommt dermaßen häufig vor, dass Psychologen es als "fundamentalen Zuschreibungsfehler" bezeichnen. Hunderte Studien haben diesen Fehler nachgewiesen.

Rowdy, Schläger, Tyrann

Denken wir an die aktuellen Spannungen in Russland und der Ostukraine, fallen wir ebenfalls auf solche fundamentale Zuschreibungsfehler herein. Diplomaten, Politiker und Experten haben Russlands Präsident Wladimir Putin als einen gewalttätigen "Rowdy" bezeichnet. Als einen schikanösen Schläger und Tyrannen. Die Implikation daraus ist, dass Russlands Verwicklung in die Ereignisse in der Ukraine eine direkte Folge der Charaktereigenschaften Putins ist.

Das allerdings trägt dem Umstand nicht Rechnung, dass starker politischer Druck Putins aggressives Verhalten in der Ukraine beeinflusst und dies in der Tat nichts mit Putins Persönlichkeit zu tun hat. Um eine effektive Antwort auf Putin zu finden, müssen wir verstehen, was der Situation geschuldet ist und was sein Verhalten beeinflusst.

Eine grundlegende Annahme zu Beginn: Alles, was Putin tut - vor allem derart wahrnehmbare Dinge wie die Invasion der Ukraine -, tut er mit einem einzigen Ziel vor Augen: Er will an der Macht bleiben. Putin muss die Schlüsselfiguren in Russland identifizieren, die bei Laune zu halten sind. Und er muss sicherstellen, dass diese glücklicher damit sind, wenn er an der Macht ist, als sie es wären, wenn er nicht an der Macht wäre. Den Unzufriedenenen gegenüber muss er im Gegensatz dazu als stark genug erscheinen, um sie von Aktionen gegen ihn abzuhalten. In Anbetracht der Tatsache, dass es Putin geschafft hat, nun mehr als ein Jahrzehnt in Russland an der Macht zu bleiben, nehmen wir an, dass er sehr gut in diesen Dingen ist.

Putins Verhalten kann über weite Strecken durch das Diktat und den Druck dreier Schlüsselfraktionen erklärt werden: die Massen, die Militärs und die Industriellen. Als die Ukraine drauf und dran war, im Winter 2013/14 in das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union einzutreten, also kurz vor der russischen Invasion auf der Krim, waren alle drei Unterstützerfraktionen Putins wenig erfreut darüber.

Gegner aufhalten

Der Umstand, dass Putin öffentlich gegen das Abkommen auftrat und offensichtlich ignoriert wurde, ließ ihn als einen ineffizienten Führer erscheinen, der nicht in der Lage schien, jene Dinge zu erreichen, die von seinen Unterstützern verlangt wurden. Deshalb musste Putin den russischen Nationalstolz anheizen (um die Bestrebungen, ihn abzusetzen, hintanzuhalten) und gleichzeitig ein Bild der Stärke vermitteln (um seine Gegner von Handlungen gegen ihn abzuhalten). Seine Lösung: die Ukraine-Invasion. Die fand nicht statt, weil Putin ein Rowdy ist, sondern vielmehr, weil er ein gewiefter Politiker ist, der jede Infragestellung seines Führungsanspruchs zu verhindern versucht.

Das erledigte er in der Tat sehr effektiv. Während die internationale Gemeinschaft durch seine Handlungen alarmiert und verärgert wurde, steigerte sich seine Popularität in Russland selber drastisch.

Nicht einschüchtern lassen

Müsste Putin nun öffentlich nachgeben, würde ihn das als schwach erscheinen lassen in einer Zeit, in der er stark erscheinen will. Deshalb werden seine Reaktionen auf internationale Verurteilungen und Drohungen aggressiv ausfallen, um zu zeigen, dass er sich nicht von den USA und der Europäischen Union einschüchtern lässt.

Um Putins Verhalten zu ändern, braucht die internationale Gemeinschaft eine zweiteilige Strategie:

1) Die Unterstützung für den Konflikt in jenen Gruppen, die Putin glaubt, bei Laune halten zu müssen, muss verringert werden.

2) Putin selbst muss ein Ausweg gezeigt werden, der es ihm erlaubt, das Gesicht zu wahren.

In Anbetracht des ersten Punktes dürften die Sanktionen der internationalen Gemeinschaft effektiv sein. Natürlich, der Durchschnittsrusse hat seinen Nationalstolz, aber er will auch einen Job haben und Essen auf dem Tisch. Militärs dagegen ziehen kleine, gewinnbare Konflikte, die deren Prestige erhöhen, großen Konflikten vor, die ihnen ihr Leben kosten könnten. Vor allem aber leiden jene Milliardäre darunter, die Putin unterstützt haben und dessen Regierung wirtschaftliche Durchschlagskraft verliehen haben. Durch die Wirtschaftssanktionen, die über Russland verhängt wurden, haben die 19 reichsten Russen 14 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr verloren. Gezielte Sanktionen gegen starke Putin-Unterstützer wie Gennady Timchenko und Arkady Rotenberg lassen die russische Wirtschaftselite zweifellos unzufrieden werden mit der aktuellen politischen Lage.

Etwas anbieten

Putin dürfte diese Feuerzeichen an der Wand erkennen, aber er braucht weiterhin einen Weg, um nachgeben zu können, ohne sein Gesicht zu verlieren. Weil seine Popularität auf der von vielen so wahrgenommenen Stärke gründet, den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union zu widerstehen, würde es ihn schwächen und Anti-Putin-Fraktionen in Russland stärken, wenn er dem internationalen Druck nachgeben würde.

Das bedeutet, dass der Westen ihm etwas geben muss, auch wenn es bloß symbolisch ist, um ihn in Würde aus der Sache herauskommen zu lassen. Sonst wird Putin aus seiner Sicht keine andere Wahl haben, als die Situation zu eskalieren: Er wird in einem Wagen ohne funktionierende Bremsen sitzen. (Michael Edwards, Daniel Oppenheimer, DER STANDARD, 28.8.2014)