In dem Comic-Blog Pictotop forscht Wissenschaftsredakteurin Karin Krichmayr in den Weiten des Comic-Universums nach Graphic Novels mit Fokus auf Wissenschaft, Forschung, Geschichte und Gesellschaft. Den Auftakt macht Jens Harders "Beta …civilisations volume 1" (Carlsen Verlag), ein außergewöhnliches Werk: Es ist nicht irgendeine Bildgeschichte, sondern es ist DIE Geschichte, die Geschichte der Menschheit in Bildern. Auf 368 Seiten eröffnet sich ein beeindruckendes Panoptikum der Evolution.

"Beta" beginnt vor 65 Millionen Jahren am Übergang von Kreidezeit und Tertiär, als ein kilometergroßer Brocken auf der Erde einschlägt und fast alles Leben auslöscht. Zurück an den Start sozusagen. Wie es dazu kam, vom Urknall angefangen, hat der Berliner Illustrator und Comiczeichner Jens Harder bereits in "Alpha", im ersten, preisgekrönten Teil seiner Mammut-Serie, aufgerollt.

Jetzt ist die Stunde der Säuger gekommen. Befreit von der übermächtigen Konkurrenz entsteht ein Sammelsurium an wunderlichen Kreaturen. "Aber gerade im Winzigen, Unscheinbaren vollziehen sich bahnbrechende Innovationen mit unabsehbaren Folgen", wie Harder gleich zu Beginn festhält. Das folgende Bilderfeuerwerk reißt einen mit in die Tiefen der menschlichen Zivilisationen, ihrer Errungenschaften und ihrer Kehrseiten.

Jens Harder, BETA, Carlsen Verlag GmbH, 2014

Es sind ausgerechnet rattenartige, Insekten fressende Baumbewohner, die sich als Ursprung von Affen, Halbaffen und letztlich des Menschen erweisen. Doch "Beta" ist keineswegs bloß eine lineare Nacherzählung evolutionärer Entwicklungen der höheren Primaten. Die Menschwerdung ruft vielmehr ein schwindelerregendes Karussell aus Assoziationen auf den Plan: Urzeitliche Wesen wechseln mit Momentaufnahmen von Jesus, Superman, Elvis und Hitler - ein Vorgriff darauf, was jede noch so schemenhaft ausgeprägte Fähigkeit schon in ihrem Kern enthält.

Was mit einem primitiven Schlagstein anfängt, stellt Harder direkt modernen Waffen gegenüber, die ersten Feuerstellen tragen bereits das grelle Licht der Atombombe in sich, und in der Großwildjagd scheinen bereits alle Verhaltensweisen bei der Jagd nach dem Pokal bei einer Fußball-WM zu fußen.

Jens Harder, BETA, Carlsen Verlag GmbH, 2014

Harder greift bei seinen blitzartigen Zeitsprüngen in den (pop-)kulturellen Kollektivfundus, den wir alle in uns tragen: In einem regelrechten Zitaterausch verweist er auf eine Unzahl von Meilensteinen der Film-, Kunst- und Comicgeschichte, von Michelangelo über King Kong bis zu Robert Crumb. Da trifft schon einmal Höhlenmalerei auf Banksy-Graffiti und Jackson Pollock, alles selbst nachgezeichnet und in einem Quellenverzeichnis feinsäuberlich aufgelistet.

Dieses Netzwerk aus Hyperlinks verführt vor allem zum Gedankenexperiment: In viele Fragmente zerlegt, fügen sich die essenziellen Fragen der Menschheit wie von selbst zu einem großen Ganzen zusammen. Die Triebfedern des menschlichen Daseins - sie basieren letztlich auf dem simplen Drang zu überleben und sich zu behaupten. Das gilt für die Entwicklung des Lachens und der Sprache genauso wie für Ackerbau, den Aufbau von Königreichen und das Entstehen von Religionen und Kriegen.

Jens Harder, BETA, Carlsen Verlag GmbH, 2014

Charakteristika wie Kooperation und Konkurrenz oder einfach das Sammeln, von Wurzeln und Nüssen in der Urzeit bis zu Briefmarken und jeglichem Nippes heutzutage, treten als das zutage, was sie sind: zutiefst menschlich. In jedem von uns steckt auch noch ein wenig Urmensch. Gerade diese direkten Gegenüberstellungen zwischen Frühgeschichte und Moderne machen das nahtlose Ineinandergreifen von Innovationen deutlich, die etwa von der Machterweiterung durch Siedlungen zu komplexer Architektur führen - alles fließt.

Die subtil schimmernden Farben wechseln scheinbar ohne tiefere Bedeutung regelmäßig zwischen kupfer, gold und silber. Nur hin und wieder platziert Harder eine sparsame, grob einordnende Textzeile, wie Kommentare aus dem Off, die den Bildern jeden Platz geben, für sich selbst zu sprechen. Landkarten, Statistiken, Stammbäume und Diagramme ergänzen die Bildenzyklopädie. Am Ende eines jeden Epochen-Kapitels kann man sich mit Zeittafeln einen detaillierteren historischen Überblick schaffen.

Jens Harder, BETA, Carlsen Verlag GmbH, 2014

2.000 Jahre sind rein rechnerisch in einem Bild verpackt, berichtet Jens Harder im Anhang von "Beta" - wenngleich die Verteilung nicht gerecht sein kann. Immerhin kommt das letzte Kapitel, das der vergleichsweise wimpernschlagkurzen Antike gewidmet ist, noch auf 40 Seiten. Das Buch endet mit der Zeitenwende, dem Jahre null unserer Zeitrechnung. Es handle sich um den "Versuch der Darstellung einer möglichen Entstehungsgeschichte", betont der bekennende Atheist Harder. Er wolle mit seinem Werk keinen Wahrheitsanspruch stellen.

Vier Jahre hat Harder an "Beta" gearbeitet. Der nächste Teil, "Beta 2", soll die Entwicklung bis zur Gegenwart abbilden. Als Abschluss ist "Gamma ... visions" geplant, in dem Harder einen Blick in die Zukunft werfen will - der wohl ebenso ausufernd ausfallen wird wie seine bisherigen Comic-Naturdokumentationen. Allerdings könnte es noch ein paar Jahre dauern, bis der nächste Teil der aufwändigen Serie erscheint. Inzwischen will sich Harder nichts Geringerem als dem Gilgamesch-Epos widmen - einem der ersten überlieferten literarischen Dokumente der Geschichte. Auf weitere glänzende Superlative kann man sich gefasst machen. (Karin Krichmayr, derStandard.at, 24.9.2014)

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Jens Harder, BETA, Carlsen Verlag GmbH, 2014

Jens Harder
Beta ...civilisations Volume 1

Carlsen Verlag 2014
Hardcover, 368 Seiten, 51,30 Euro

Foto: Jens Harder, BETA, Carlsen Verlag GmbH, 2014