Ungleiche Schwestern: Adèle Haenel (re.) verkörpert die geerdete Maria, Sara Forestier die unstete Titelheldin von Katell Quillévérés "Suzanne".

Foto: thimfilm

Paris/Wien - Wenn die eine etwas anstellt, wird sie von der anderen gedeckt. Suzanne und Maria sind Schwestern, die sich von Kindheit an auf bestimmte Rollen eingespielt haben. Die unstetere ist Suzanne, die Titelheldin von Katell Quillévérés Film. Sara Forestier verkörpert sie als eine junge Frau, die auf das Leben mit unstillbarem Hunger auf Erfahrungen zugeht. Maria fängt sie immer wieder auf. Sie sei geerdeter als ihre Schwester, heißt es einmal im Film.

Ein Los, das ihr zugefallen sei, meint Adèle Haenel, die diesen kleineren Part mit nachhaltiger Präsenz bestreitet. Ende Februar wurde die 25-Jährige dafür mit Frankreichs wichtigstem Filmpreis, dem César, ausgezeichnet. "Ich habe Maria um Suzanne herum entworfen - ein Komplementärpart", erzählt sie im Standard-Interview. "Maria versucht die Familie zusammenzuhalten, die große Rolle überlässt sie stets ihrer Schwester. Sie ist ihrer Schwester in Liebe zugetan, will ihr das Leben leichter machen und ihr auch beweisen, dass sie geliebt wird."

An Quillévérés melodramatischer, aber mit triftigen Auslassungen erzählter Familiengeschichte gefiel ihr, dass es eine vielschichtige Dreieckskonstruktion sei, die ohne Moral auskommt - ein bemerkenswerter Satz der stets überlegt, sympathisch direkt wirkenden Schauspielerin. Maria folge, was Suzanne betrifft, einfach ihrem Gefühl, wie auch der Dritte im Bunde, der aufopfernd alleinerziehende Vater (François Damiens). "Der Film zeigt, dass Liebe keine Frage der Wahl ist. Und Liebe macht das Leben nur einfach, wenn alles richtig läuft - wenn Menschen verlorengehen, dann wird sie zum schwierigsten Gefühl überhaupt."

Debüt als Teenager

Haenel, 1989 in Paris geboren, ist derzeit eine der gefragtesten Jungschauspielerinnen Frankreichs. Wenige wissen, dass sie auch österreichische Wurzeln hat - ihr Vater stammt aus Graz, arbeitet als Übersetzer, die Steiermark hat sie schon oft besucht. Ihren ersten Filmauftritt hatte Haenel bereits im zarten Alter von zwölf Jahren. In Christophe Ruggias Les diables spielte sie ein autistisches Mädchen, das mit ihrem Zwillingsbruder nach Jahren auf der Straße in einem Heim landet.

"Diese erste Rolle war einfach Riesenglück. Zu dieser Zeit hätte ich bestimmt alles gemacht. Es war eine sehr tiefgehende Erfahrung - und erst jetzt weiß ich, wie selten so etwas passiert", sagt sie über diese Chance. Dennoch hat Haenel danach Wirtschaft studiert, nicht Schauspielerei. 2007 wurde sie schließlich für den Debütfilm von Céline Sciamma, Water Lilies, gecastet. Der Part einer Teenagerin, die sich für Synchronschwimmen begeistert, brachte ihr die erste César-Nominierung ein.

Noch wichtiger war allerdings die Begegnung mit Sciamma selbst: "Wir waren sofort auf einer Wellenlänge und haben vor Ideen nur so gesprudelt." Die Regisseurin ist seitdem ihre Lebensgefährtin, was sie 2014 bei der César-Gala - mit einigem Effekt - auch öffentlich machte.

In den letzten Jahren hat Haenel ihre Vielseitigkeit in etlichen Parts unter Beweis gestellt, wobei sie diese mit viel Feingefühl auswählt. "Ich wurde stärker durch die Begegnungen mit anderen Menschen", sagt sie über ihre Laufbahn. "Man weiß allmählich mehr, was man will. Künstlerische Entscheidungen haben politische Auswirkungen - latent chauvinistische Rollen würde ich etwa niemals annehmen."

Haenel war etwa eine der Prostituierten in Bertrand Bonellos außergewöhnlichem Kostümfilm L'apollonide (Haus der Sünde), in Cannes präsentierte sie dieses Jahr auch L'homme qu'on aimait trop von André Téchiné, in dem sie an der Seite von Catherine Deneuve zu sehen ist. Ihr streut Haenel erwartungsgemäß Rosen: "Es war aufregend, sie ist immer noch so jung! Es ist, als würde sie immer aufs Neue beginnen. Das ist auch der Grund, warum sie immer noch da, warum sie ein solcher Star ist." Téchiné wiederum wüsste genau, wie er seine Darstellerinnen ganz ohne autoritäre Maßnahmen zu animieren habe: "Er macht das sehr schlau, man weiß gar nicht genau, wie, aber am Ende hat er dich da, wo er hinwollte."

Arbeits- und Lebensenergie

An der Arbeit mit Katell Quillévéré habe sie die Energie im Team geschätzt - was man an den Schauspielleistungen gut ablesen kann. Sie habe bei Suzanne, so Haenel in einem weiteren interessanten Vergleich, immer an Architektur, eine Kathedrale gedacht.

"Der Film erzählt von Suzannes freiem Willen, er gibt diesem eine Form, eine Bewegung, die sich eigentlich nicht kontrollieren lässt." Dies könne auch dazu führen, dass sie Menschen verletzt. Aber den "élan vital" könne man nicht aufgeben oder abstellen. "Den hat man einfach in sich. Im Leben sind wir oft so schnell, im Turbogang unterwegs. Die wichtigen Entscheidungen fallen oft in Sekunden", sagt Haenel - kurz meint man da, sie spricht über sich selbst. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 21.8.2014)