Reflexion schadet nie. Selbsterkenntnis ist der beste Weg zu Führungskönnen.

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"Was mir bei Führungs- wie Fachkräften immer wieder auffällt, ist die Eindimensionalität der Anstrengungen, den Anschluss an die Entwicklung zu behalten“, fasst der Esslinger Philosophieprofessor Ferdinand Rohrhirsch seine Eindrücke als Coach und Berater zusammen. Hoch im Kurs stünden die Pflege von Fachwissen und beruflichen wie überberuflichen Netzwerken und Vernetzungen, hingegen würde im oft krassen Gegensatz dazu "die Persönlichkeitsbildung nicht selten geradezu unverantwortlich vernachlässigt".

Mehr und mehr in Vergessenheit gerate offensichtlich, "dass das Bemühen um einen zu einer gewissen Weltweisheit führenden persönlichen Reifeprozess für die Orientierung, Behauptung und abgewogene Urteilsbildung im Beruf ebenso wichtig sei, wie fachlich auf der Höhe der Zeit mithalten und argumentieren zu können“.

Was ganz augenscheinlich kaum noch in Betracht gezogen würde und damit auch nicht im notwendigen Maß im Fokus der Aufmerksamkeit stünde, sei "dass beides, gelingende, effiziente, reibungsarme Führung wie auch das kollegiale Miteinander, maßgeblich in der Fähigkeit zu reflektierter Selbstführung gründe“.

Als „vielleicht augenscheinlichsten Beleg“ für dieses Defizit führt Rohrhirsch, der als praktische Philosophie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt lehrt, "das immer wieder zu beobachtende impulsiv ungezügelte, unbedachte Verhalten in heiklen, kritischen Situationen“ an. Vor allem anderen beschwöre gerade diese Unfähigkeit, sich im Griff zu haben, sich steuern zu können und sich unter Druck einen klaren Kopf zu bewahren, laufend unnötige Probleme – beileibe nicht nur in der Führung wie der Zusammenarbeit – herauf.

Sorge um die Persönlichkeit

Nicht allein dem Zwischenmenschlichen, der Lust an der Arbeit und der Arbeitseffizienz täte aus Rohrhirschs Sicht mehr Sorge um die Persönlichkeitsentwicklung gut. Auch „die wachsende Komplexität des gesellschaftlichen Geschehens im Allgemeinem wie der wirtschaftlich-beruflichen Konstellationen im Besonderen mit ihren immer schwieriger werdenden Entscheidungen“ fordere im Interesse aller, sich weniger impulsiv auf sich bezogen und sich stattdessen deutlich umsichtiger und differenzierter mit Problematiken auseinanderzusetzen. Und so sieht Rohrhirsch in "dem Manko Persönlichkeitsbildung“ eine dem Gemeinwohl höchst abträgliche Fehlentwicklung.

Wo verortet der Philosoph nun den Ansatzpunkt bewusster Persönlichkeitsentwicklung? In der Fähigkeit zur Besinnung, in dem Mut, die Wahrheit der eigenen Voraussetzungen und Ziele infrage zu stellen.

Rohrhirsch erinnert diesbezüglich an das delphische "Erkenne dich selbst!“ Womit auf die Voraussetzung für Entwicklung, Reife und – "zunehmend wichtig in einer Welt vermehrter Instabilität“ – zu intrapersönlicher Stabilität führendes Hinterfragen des eigenen Denkens, Tuns und Lassens verwiesen werde. Also auf die Notwendigkeit des Bestrebens, "nicht einseitig in den eingelebten, im Gehirn fixierten Bahnen von Gewohnheiten, Betrachtungs- und Reaktionsweisen durch die Tage zu gehen und sich dadurch die vielfältigen Möglichkeiten einer erfüllteren Lebensgestaltung selbst zu schmälern oder ganz und gar zu nehmen“.

Beschwöre diese "Besinnungslosigkeit“ privat – zunehmend gerade auch im nachbarschaftlichen Verhältnis – schon häufig genug erhebliche Misshelligkeiten herauf, könne dies beruflich heute "ein direkter Weg an den Rand des Geschehens sein und einen Menschen zum Strandgut der Entwicklung machen“.

Sich selbst hinterfragen

Sich zu hinterfragen, weist Rohrhirsch "einen nicht selten zu hörenden Irrtum zurück“, habe nichts mit Zweifeln an sich selbst oder der Angst vor einer eigenen Meinung zu tun. Sich zu hinterfragen zeuge im Gegenteil von persönlichem Mut.

Handele es sich dabei wie gesagt doch um die charakterliche Stärke, sich auf sich selbst zurückzuwenden, sich sozusagen von außen anzuschauen und sich zu fragen: Warum denke, mache, verhalte ich mich eigentlich so, wie ich mich verhalte? Tut mir das gut? Nutzt mir das? Bringt mich das wirklich dahin, wo ich gern hinmöchte? Und auch: Werde ich anderen damit gerecht?

"Ich bin sicher, so manche Führungskraft, die sich an der vermeintlichen Bockbeinigkeit ihrer Mannschaft abarbeitet, könnte relativ rasch wirkliche Führungskraft entfalten und einen besser funktionierenden Draht zu ihrer Mannschaft bekommen, würde sie sich zu diesen Fragen durchringen“, sagt Rohrhirsch.

Beherzt den Blickwinkel zu wechseln, die gewohnte "Brille“ von der Nase zu nehmen, der Versuch, in anderen als den gewohnten Alternativen zu denken, sich von dem eindimensionalen Wenn-dann zu lösen und dem Sowohl-als-auch im Denken einen Platz einzuräumen und sich damit inspirierender Gedankenvielfalt zu öffnen, das, sagt Rohrhirsch, "charakterisiert den Typ Mensch, den wir heute in allen Bereichen immer schmerzhafter vermissen: Persönlichkeiten“.

So hätten Managerpersönlichkeiten weder Scheu davor noch Schwierigkeiten damit, sich auch mal selber überzeugen zu lassen. Ihnen mache es nichts aus, ihr Alltägliches mit den gewohnten Vorstellungen, Vorgaben und insbesondere auch Ritualen und damit sich selbst auf den Prüfstand zu stellen und eben auch stellen zu lassen.

Sei ihnen doch bewusst, dass dadurch nicht allein ihre Leistungseffizienz steige, sondern auch ihre Lebensqualität. "Je zugewandter, offener, unverkrampfter und weniger auf sich selbst pochend Führungskräfte anderen gegenüber auftreten, desto mehr Unterstützung bekommen sie von ihren Mitarbeitern und umso angstfreier können alle arbeiten und leben! Wer an sich selber hängt wie eine Klette, hängt sich selber einen Mühlstein um den Hals und verpasst sich Bleischuhe an den Füßen!“ Als Coach, sagt, Rohrhirsch, stoße er immer wieder auf Menschen mit dieser Garnierung.

Bereitschaft, an sich zu arbeiten

Ohne die Bereitschaft, an sich zu arbeiten, zu lernender wie entlernender Persönlichkeitsentwicklung gelinge ein gleichermaßen tatkräftiges wie sich selbst und andere ermutigendes In-der-Welt-Stehen schwieriger denn je.

Sich in einer innovationsgetriebenen Welt zurechtzufinden setze das Wollen wie auch die Fähigkeit voraus, in diesem Sinne abgeschieden zu leben, ohne sich dabei selbst zu verlieren oder prinzipienlos zu werden. Nur Lebensunkluge setzten die Bereitschaft, sich zu ändern, mit der Befürchtung gleich, sich selber untreu zu werden, wankelmütig zu sein oder gar ihr Mäntelchen nach dem Wind zu hängen. Spiegele sich doch gerade in dem Mut zur Auseinandersetzung mit sich selbst "vielmehr wahre Lebensklugheit und das oft nur dunkel empfundene Wissen um die Gefahr, plötzlich fassungslos vor einer nicht mehr fassbaren Welt zu stehen“.

In Goethes recht bekanntem Gedicht Selige Sehnsucht heißt es zum Schluss: "Und solang du das nicht hast, dieses: Stirb und werde! Bist du nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde.“ "Schauen Sie sich doch mal in den Unternehmen um, nicht wenige Führungskräfte sind solche trüben Gäste auf der Erde ihres beruflichen Umfelds, weil sie einfach nicht aus den Kleidern und Schuhen des Alltäglichen und Gewohnten schlüpfen, weil sie aus einem unhinterfragt fortgelebten Rollenverständnis heraus handeln, das weder ihnen noch den von ihnen Geführten wohltut. Und mit dem sie sich in Wirklichkeit zu Gefangenen ihrer selbst machen, obwohl sie sich als Opfer der Umstände wahrnehmen, in denen sie sich behaupten und bewähren müssen.“

Zu den Philosophen

Beileibe nicht nur für das Management sei es ratsam, auf den römischen Philosophen Seneca zu hören, der zu bedenken gab: "Nicht, weil es schwer ist, wagen wir es nicht. Sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer.“

Wenn er auch als Schriftsteller und Dichter in manchen Augen wenig Gnade findet, Hermann Hesses Gedicht Stufen ist ein Klassiker. Insbesondere die Zeilen „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe, bereit zum Abschied sein und Neubeginne (...) Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“ sind zum beinahe geflügelten Wort geworden.

Womit Hesse sich vermutlich selber Mut zugesprochen und ermuntert hat, markiert für Rohrhirsch das, was in der Dynamik der modernen Welt vielleicht am zuverlässigsten vor der Gefahr des Nicht-mehr-Verstehens, Nicht-mehr-Könnens und als Folge davon vor dem Ausbrennen am zuverlässigsten schützt: die Arbeit an sich selbst. (Hartmut Volk, DER STANDARD, 23./24.8.2014)