Wien – Wenn Walter Thirring in den letzten Jahren vor dem Morgengrauen keinen Schlaf mehr fand, dann setzte er sich an seine Orgel und begann den Tag mit Musik. Denn eigentlich hätte er Musiker und nicht international renommierter Physiker werden sollen. Dafür war nämlich sein Bruder vorgesehen, der jedoch im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront fiel.
Der um drei Jahre Ältere hatte seinen Tod geahnt und dem Jüngeren aufgetragen, an seiner Stelle die große wissenschaftliche Tradition der Familie fortzuführen. Der Familienname des damals 16-Jährigen war bereits in die Geschichte der Physik eingegangen: Vater Hans, Ordinarius für Theoretische Physik an der Universität Wien, hat im Anschluss an Albert Einsteins Relativitätstheorie den so genannten Lense-Thirring-Effekt formuliert.
Bereits mit 22 Jahren schloss Walter Thirring das Studium der Physik, das er kriegsbedingt ohne Matura begann, mit Auszeichnung ab. Unmittelbar danach bekam er es mit gleich drei Physik-Nobelpreisträgern näher zu tun: Ab 1949 arbeitete er für je ein Jahr bei Erwin Schrödinger in Dublin, bei Werner Heisenberg in Göttingen und bei Wolfgang Pauli in Zürich. Nach einem weiteren Jahr als Assistent an der Uni Bern übersiedelte Thirring 1953 nach Princeton und lernte dort den um 48 Jahre älteren Albert Einstein kennen.
Privatissima mit Einstein
Die zwei längeren Privatissima bei Einstein seien "recht anregend" gewesen, erinnerte sich Thirring: Es ging um Politik, den Weltfrieden und natürlich um Physik. Thirring unterbreitete bei einem der Treffen seine neuen Ideen zur Gravitationstheorie, beim anderen Treffen wollte er Einstein von seinen Gedanken über ein spezielles Problem der Quantentheorie überzeugen. Beide Male blieb Einstein skeptisch.
Beim quantentheoretischen Problem, bei dem es um das Entstehen von Teilchen gleichsam aus dem Nichts ging, verzichtete Thirring auf die Publikation – auch eingeschüchtert von Einsteins Vorbehalten. Heute weiß man, dass Thirring damals die heute berühmte Hawking-Strahlung vorausgeahnt hat, also den Austritt von Teilchen aus den sogenannten Schwarzen Löchern.
Der damals noch weitgehend unbekannte Außenseiter aus Wien vermehrte in diesen Jahren dennoch den Ruhm des Namens Thirring vor allem in der mathematischen Physik. In der Quantenfeldtheorie führte er ein nach ihm benanntes exakt lösbares Modell ein, mit Elliott H. Lieb leistete er den entscheidenden theoretischen Beitrag zur Stabilität der Materie.
Direktor am Cern in Genf
Trotz seiner erfolgreichen Aufenthalte in Princeton und auch am MIT zog es ihn Ende der 1950er-Jahre wieder nach Wien. Er nahm eine Professur an der Uni Wien an, war von 1968 bis 1971 auch Direktor der Abteilung Theoretische Physik am Cern in Genf und gründete 1993 gemeinsam mit dem Mathematiker Peter Michor und der Physikerin Heide Narnhofer das Erwin-Schrödinger-Institut für Mathematische Physik (ESI).
Nach seiner Emeritierung schrieb Thirring auch populärwissenschaftliche Bücher, so etwa mit der damaligen Astronomiestudentin Cornelia Faustmann "Einstein entformelt", in dem sie die spezielle Relativitätstheorie anschaulich darstellten. In seinem Buch "Kosmische Impressionen", zu dem Kardinal Franz König ein Vorwort schrieb, geht es auch um das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion.
Ein Hinweis auf eine Existenz Gottes ist nach Thirring die Feinabstimmung der Naturkonstanten. Die Musik wiederum würde beweisen, "dass es Dinge gibt, die nicht allein durch die physikalischen Gegebenheiten erklärbar sind." 2008 veröffentlichte Thirring, der selbst auch komponierte, eine Autobiografie, ein Jahr später erhielt er eine "Ehrenmatura", die er als Flakhelfer versäumt hatte. Sein trockener Kommentar: "Doktorate habe ich schon genug, was mir fehlt ist die Matura".
Walter Thirring, einer der wichtigsten österreichischen Physiker nach 1945, starb in der Nacht auf Dienstag in Wien. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 19.8.2014)