2012 wurden 67 Entwicklungshelfer getötet, 115 schwer verletzt und 92 entführt. Am Tag der humanitären Hilfe wird ihrer gedacht.

Foto: christian fischer

"Wenn du mich noch ein einmal anguckst, steche ich dir die Augen aus", brüllt der Typ mit dem Messer. Neben ihm stehen zwei Maskierte und richten ihre Kalaschnikows auf mich. Kurz darauf unterschreibe ich ein Geständnis, dass meine Kollegen an Vergewaltigungen beteiligt waren. Ich bin in der Gewalt von Rebellen in Ganton. Das fiktive Bürgerkriegsland befindet sich auf dem Territorium der Bundeswehrkaserne Wildflecken in der Rhön. Zusammen mit Mitarbeitern der Hilfsorganisation World Vision werde ich hier auf Einsätze in Kriegsgebieten vorbereitet.

In Ganton terrorisieren skrupellose Warlords die Zivilbevölkerung, und auch Mitarbeiter der Vereinten Nationen, internationaler Hilfsorganisationen und Journalisten sind zur Zielscheibe geworden. Tausende sind auf der Flucht, eine Hungersnot droht. Das Szenario ist fiktiv, unrealistisch ist es nicht.

Überleben bei Geiselnahmen

Mit mir absolvieren 22 Männer und 14 Frauen, die für World Vision unter anderem in Afghanistan und Somalia arbeiten, das Training. Sechs Trainer und ein Psychologe sollen uns unter anderem beibringen, wie wir in Krisengebieten arbeiten und Geiselnahmen überleben können.

"Es macht mir keinen Spaß, euch zu quälen, aber ich muss euch ein gutes Stück aus der Komfortzone holen, um euch für eure gefährlichen Einsätze vorzubereiten", sagt Trainingsleiter Scott Raesler. Der muskelbepackte Kanadier mit den kurzgeschorenen Haaren arbeitete als Soldat, Sicherheitsoffizier der Vereinten Nationen, Polizist und Inhaber einer eigenen Sicherheitsfirma unter anderem in Afghanistan, im Irak und im Kosovo. Er hat doch ein bisschen Spaß, uns zu quälen.

Als Erstes schnüren er und seine Männer uns mit Kabelbindern die Daumen zusammen und stülpen uns schwarze Säcke über das Gesicht. Ich weiß, dass ich unter dem dunklen Stoff nicht ersticken werde, aber beim Einatmen legt das bald schweißnasse Tuch sich wie eine Totenmaske über mein Gesicht. Immer schneller schnappe ich nach Luft. Mit ausgestreckten, gefesselten Armen knie ich auf dem harten Beton. Wie ein ehrfürchtig Betender. Wäre dies keine Simulation, dann würde ich jetzt wahrscheinlich wirklich beten. Neben mir knien World-Vision-Mitarbeiter, die tatsächlich schon einmal entführt wurden. Später werden sie mir von ihren Flashbacks berichten.

Beunruhigender Trend

2012 erreichten die Anschläge auf Entwicklungshelfer ihren vorläufigen Höhepunkt. 67 Entwicklungshelfer wurden getötet, 115 schwer verletzt und 92 entführt. Die meisten tödlichen Zwischenfälle gab es in Afghanistan, Pakistan, im Südsudan, in Somalia und Syrien. Und der beunruhigende Trend setzt sich fort. So wurden Anfang August im Südsudan sechs humanitäre Helfer getötet, die Vereinten Nationen zogen daraufhin einen Teil ihres Personals ab. Die Zahl der Entführungen von Entwicklungshelfern hat sich nach Angaben der internationalen Forschungsgruppe "Humanitarian Outcomes" in den letzten zehn Jahren vervierfacht.

"Seitdem manche bewaffnete Konfliktparteien die Mitarbeiter von Hilfsorganisation als legitime Ziele sehen, ist die Arbeit in Kriegs- und Krisenregionen schwieriger geworden. Vor allem Organisationen, die mit dem Westen und den USA in Verbindung gebracht werden, sind gefährdet", sagt Trainingleiter Scott Raesler.

Mit Übungshandgranaten beworfen

Rund 1.400 Euro pro Person kostet der von 60 Bundeswehrsoldaten unterstützte Kurs. Wir werden mit Übungshandgranaten beworfen, bei Lebensmittelverteilungen mit Platzpatronen beschossen, geraten in Minenfelder, Hinterhalte und Kreuzfeuer, werden von Einheimischen beinahe gelyncht, von Rebellen ausgeraubt und erpresst. Wir lernen, uns unter Beschuss selbst einen Druckverband anzulegen und uns mit Kompass und Karte allein durchzuschlagen.

Zum Schluss des Trainings knien die Entwicklungshelfer und ich mit verbundenen Augen in einem feuchten Keller und müssen immer wieder die absurden Regeln der sadistischen Geiselnehmer brüllen. Ich muss an meinen Freund und Kollegen denken. Zehn Monate war der Kriegsreporter in Syrien in der Gewalt von Entführern. Meine "Geiselhaft" endet nach wenigen Stunden. Ich hoffe, es bleibt meine einzige. (Philipp Hedemann aus Gersfeld, DER STANDARD, 19.8.2014)