Oliver Jeges stellt die Frage, ob "Muslime wirklich unfähig zur Selbstkritik" seien. Am Ende des Kommentares (in der Standard vom 8. August 2014) erfahren wir die Antwort, auch wenn Jeges sich hinter einem eineinhalb Dekaden alten Zitat Salman Rushdies versteckt: Es handle sich beim Islam um eine "Kultur, unfähig zur Selbstreflexion. Nicht willens, das Böse aus den eigenen Reihen zu bekämpfen."

Eine solche Position ist nicht nur falsch, sie trägt auch dazu bei, dass vorhandene innergesellschaftliche Konflikte in Europa und darüber hinaus verschärft und die Ausgrenzung von Muslimen vertieft werden.

Die Muslime?

Das grundlegende Problem an Jeges' Darstellung ist die Annahme, es gäbe "die Muslime" als geschlossene Gruppe. In seinen Anekdoten geht es um "die islamische Welt", "arabische Communities", "die Türkei", die Terrormiliz IS, Teilnehmer an Demonstrationen gegen Israels Krieg im Gazastreifen oder auch um einen deutschen Studenten "mit arabischen Wurzeln". Sie alle stehen in Jeges' Geschichte für "die Muslime" - und als solche können ihre Handlungen gar nicht anders erklärt werden denn als getrieben von "dem Islam".

Dieses manichäische Weltbild bleibt, auch wenn es im Namen der Aufklärung mobilisiert wird, viel näher an den Prämissen der reaktionärsten islamistischen Bewegungen, als sich sein Träger eingestehen vermag. Die Aufteilung der Menschheit in eine "islamische" und einen "Rest der Welt", die Zuschreibung von Eigenschaften und Haltungen an rund zwei Milliarden Muslime, spiegelt bloß die Ideologie jener, die den islamischen Staat als radikales Gegenmodell zum dekadenten, scheinheiligen Westen postulieren.

Einseitige Anekdoten

Die vielen von Jeges angeführten Anekdoten sind im besten Fall höchst einseitig ausgewählt und dienen allein dazu, seine These von der Andersartigkeit der Muslime zu stützen. Ein Beispiel ist die von keinem ernsthaft damit befassten Menschen geteilte Behauptung, die Mohammed-Karikaturen hätten "beinahe den dritten Weltkrieg ausgelöst". Nicht nur ist die Wortwahl abstrus, auch die darin eingelagerte These ist unhaltbar.

Für ihn handelt es sich um ein weiteres Beispiel von "in ihrer Ehre verletzten" Muslimen, die "blanken Hass" und "zügellose Gewalt" gegen den Westen richteten. Wissenschaftliche Untersuchungen, die seine Darstellung verkomplizieren könnten - etwa Jytte Klausens große Studie, die zeigt, dass die Kontroverse weniger kulturell-religiöser Konflikt war, sondern lokal von unterschiedlichen Kräften politisch mobilisiert und instrumentalisiert wurde - sind Jeges entweder unbekannt oder werden von ihm bewusst ignoriert.

Natürlich sind in Jeges' Darstellung nicht alle Muslime Gewalttäter, Antisemiten und Terroristen. Die "überwältigende Mehrheit", schreibt er, sei "friedlich, aber leider zu oft stumm". Seine Kernthese von der muslimischen Unfähigkeit zur Selbstkritik beruht darauf, dass Menschen, die qua Selbst- oder Fremdzuschreibung als muslimisch gelten, sich zu allen im Namen des Islam in irgendeinem Teil der Welt begangenen Taten zu verhalten haben. Wer sich nicht lautstark von Al Kaida, IS, weiblicher Genitalverstümmelung, Steinigungen und was sonst noch als islamistisch gilt, distanziert, ist dieser Logik zufolge zumindest verdächtig, im schlimmsten Fall mitschuldig an all diesen Verbrechen, denn "nur weil man nichts mit dem Islamismus zu tun haben will, heißt das nicht, dass man nichts dagegen unternehmen muss".

Das gilt aber natürlich nicht für alle, sondern eben nur - für "die Muslime". Um die Struktur dieser Forderung zu verdeutlichen: Wer Juden und Jüdinnen, individuell oder als Kollektiv, als "jüdische Welt", für die kriegerische Politik der israelischen Regierung oder gar für Terrorgruppen wie die Jewish Defence League oder Aufrufe zum Genozid an der Bevölkerung im Gazastreifen, zur Verantwortung ziehen will, wird sich zu Recht der Kritik ausgesetzt sehen, Antisemitismus zu bedienen. Muslime und Musliminnen in zwei Kategorien zu teilen, jene der gewalttätigen Fanatiker und jene der Stummen und deshalb Verdächtigen, folgt einer ähnlich kruden Logik. Man stelle sich doch nur einmal folgende Artikelüberschrift in einer großen Tageszeitung vor: Sind Juden wirklich unfähig zur Selbstkritik?

Unüberwindbarer Gegensatz

Jeges konstruiert einen scheinbar unüberwindbaren Gegensatz zwischen Muslimen und Musliminnen auf der einen und "unserem" aufgeklärten, demokratischen Westen auf der anderen Seite. Er lässt die real existierende Pluralität an muslimischen und anderen Identitäten hinter der Kategorie der reflexionsresistenten Muslime verschwinden, um seine Welt in zwei Lager zu teilen.

Zwang zur Selbstaufgabe

Und dies ist ihm noch zu viel. Denn die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Muslime können ihre Unfähigkeit zur Selbstkritik nur überwinden, wenn sie den Islam überwinden. Erst wenn sie aufhören, Muslime zu sein - oder, in Jeges' vielsagender, finaler Metapher, den Schleier lüften, das heißt, wenn "sie" endlich so sind wie "wir" -, kann es Frieden geben.

Doch dies ist kein Friedensangebot, sondern ein Erpressungsversuch. Er speist sich nicht aus der konkreten Analyse der komplexen Konfliktlagen in aller Welt, sondern aus der "Wut auf die Differenz". Und diese wohnt, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer einst formulierten, nicht der Aufklärung inne, sondern dem Ressentiment. (Benjamin Opratko, DER STANDARD, 16.8.2014)