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Jesiden, die vor der Gewalt der Milizen des "Islamischen Staats" (IS) im Nordirak fliehen.

Foto: Stringer/Reuters

Kriege ziehen Polarisierungen der Meinungen mit sich. Die eigenen Reihen werden geschlossen, und man nimmt die Konflikte nur aus der eigenen (z.B. ethnischen oder konfessionellen) Perspektive wahr. Hans Rauscher beklagt zu Recht die Einseitigkeit der Proteste bestimmter muslimischer Gruppen gegen Israel im Gaza-Konflikt, während die gleichen Gruppen zu den Verbrechen der Milizen des "Islamischen Staats" (IS) im Irak schweigen würden. "Aber warum protestiert niemand gegen den mörderischen Wahnsinn von Muslimen gegen Muslime?" (Standard, 5.8.2014).

Würde diese Bewertung in dieser Allgemeinheit stimmen, über die österreichische Situation hinaus, dann würden latente oder offene Befürchtungen in den westlichen Gesellschaften bestätigt werden, dass der muslimische Mainstream insgeheim mit radikal-islamistischen Richtungen sympathisieren würde, die eine islamische Ordnung nach ihrer Vorstellung mit Gewalt durchsetzen wollen. Das Misstrauen den Muslimen gegenüber, vor allem in Europa, das in zahlreichen Studien in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden ist, würde noch weiter vertieft werden.

Klare und scharfe Verurteilungen der Terrorgruppe

Aber stimmt diese Einschätzung? Schweigen die Muslime zum mörderischen Wahnsinn der IS? Das Gegenteil ist der Fall. In den letzten Wochen haben sich zahlreiche führende muslimische Gelehrte, Organisationen und Bewegungen weltweit mit klaren, scharfen Verurteilungen der Terrorgruppe "Islamischer Staat" zu Wort gemeldet.

In einer öffentlichen Erklärung vom 21. Juli verurteilte Iyad Ameen Madani, Generalsekretär der Organisation for Islamic Cooperation (OIC), die 57 Länder repräsentiert, die erzwungene Deportation unter der Drohung der Exekution von Christen in Mosul und Niniveh durch die "terroristische Organisation" ISIS. Es handle sich um ein "Verbrechen, das nicht toleriert werden kann." Das OIC erklärte weiters, "dass die Praktiken von ISIS nichts zu tun haben mit dem Islam und seinen Prinzipien, die Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Fairness, Religionsfreiheit und Koexistenz fordern."[1]

Höchste Autorität im sunnitischen Islam

Die pakistanische Zeitung "Dawn" zitierte am 5. Juli den Vizerektor der al-Azhar-Universität in Kairo, der höchsten Autorität im sunnitischen Islam, Scheich Abbas Abdullah Shuman, der die Gruppierung "Islamischer Staat" explizit verurteilte: "Das islamische Kalifat kann nicht mit Gewalt wiederhergestellt werden. Die Besetzung eines Landes und die Tötung der halben Bevölkerung – das ist kein islamischer Staat, das ist Terrorismus."[2]

In Indonesien bezeichneten führende Vertreter der beiden größten muslimischen Organisationen – Nahdlatul Ulama (NU) und Muhammadiyah, die zusammen rund 60 Millionen Muslime vertreten – die Gruppierung IS als im Gegensatz zum Islam. Der Vorsitzende des Exekutivrats der NU, Slamet Effendy Yusuf, rief die Muslime auf, die gewalttätige Bewegung auf keinen Fall zu unterstützen: "Es geht nicht um ein Kalifat, sondern um (eine Gruppe), die für ihre eigene Sache arbeitet."[3] Der Vorsitzende der NU Said Aqil Siroj rief am 8. August die indonesische Regierung auf, entschlossene Maßnahmen gegen die IS zu setzen.[4]

Verurteilung in Europa

In Großbritannien haben mehrere führende muslimische Organisationen – darunter Muslim Council of Great Britain, British Muslim Forum und Mosque and Imam National Advisory Board - eine gemeinsame Stellungnahme gegen die IS unterzeichnet und Anfang Juli vor dem Westminster-Palast in London veröffentlicht.

Darin verurteilen sie die "barbarische Gewalt und Zerstörung" durch die IS.[5] Gleichzeitig wurde ein offener Brief von mehr als 100 britischen Imamen aller theologischen Richtungen unterzeichnet, in dem sie gemeinsam an die britischen Muslime appellieren, sich den Bemühungen der Extremisten, junge Muslime in die Kampfgebiete zu locken, zu widersetzen, und nicht sektiererischen Trennungen zum Opfer zu fallen. Ebenso wurde ein Online-Video mit einer Botschaft von vier britischen Imamen erstellt, um der Online-Propaganda der IS etwas entgegenzusetzen.[6]

Ausrufung des Kalifats durch die IS "null und nichtig"

Führende sunnitische Rechtsgelehrte betrachten die Ausrufung des Kalifats durch die IS als illegitim und gegenstandslos. So hat beispielsweise die International Union of Muslim Scholars unter ihrem Vorsitzenden Yusuf al-Qaradawi, einem der einflussreichsten sunnitischen Theologen, am 4. Juli eine Erklärung verabschiedet, in der die Ausrufung des Kalifats durch die IS als "null und nichtig" charakterisiert wird. Die entsprechende Deklaration der IS "vermisse jede realistischen oder legitimen Standards".

Das Dokument setzt fort: "Die bloße Ankündigung reicht nicht, um ein Kalifat einzurichten." Vielmehr bedürfe die Einsetzung eines Kalifen als Repräsentanten der Ummah einer vorhergehenden Konsultation und könne nicht auf Zwang basieren. Die Verbindung des Konzepts des Kalifats mit einer als extremistisch bekannten Organisation diene nicht dem Islam.[7] Der Präsident des Diyanet, des Amts für religiöse Angelegenheiten des türkischen Staats, Professor Mehmet Görmez, stellte bei einer internationalen Konferenz der World Islamic Scholars Initiative zum Thema "Peace, Moderation and Common Sense" in Istanbul am 19. Juli zur Ausrufung des Kalifats durch die IS fest: "Solche Deklarationen haben keinerlei Legitimität."

Gefahr für die Zivilisation

Die Morddrohungen gegen Christen stellten eine Gefahr für die Zivilisation dar. "Eine Entität, der jede rechtliche Begründung fehlt, besitzt keine Autorität, einer politischen Versammlung, irgendeinem Land oder einer Gemeinschaft den Krieg zu erklären."[8]

Globale Konflikte schlagen heute unmittelbar auf die lokalen Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen, Konfessionen und Religionsgemeinschaften durch. Gerade in sehr angespannten Konfliktlagen bedarf es des Augenmaßes und des genauen Hinsehens, um die Spannungen nicht noch zu verschärfen. Es gibt kein Schweigen der Muslime zum Terror der IS.

Entdifferenzierende Tendenz

Wie die weltweiten Stellungnahmen von Repräsentanten muslimischer Organisationen zeigen, gibt es vielmehr die Sorge, dass die Propaganda der IS, vor allem über die sozialen Medien, weitere junge Muslime anziehen könnte, und dass das mörderische Vorgehen der IS gegen Schiiten und Jesiden die innermuslimischen Spaltungen auch in anderen Weltgegenden vertieft und das Zusammenleben gefährdet.

Der syrische Gelehrte Aziz al-Azmeh spricht von "Islams", von der Notwendigkeit, den Islam im Plural zu denken. Es ist notwendig, sich der entdifferenzierenden Tendenz entgegenzustellen, "den Islam" mit extremistischen Ideologien und Bewegungen, die sich auf die islamische Religion beziehen, zu identifizieren - gerade weil der mit ausgefeilten propagandistische Mitteln verbreitete Anspruch der IS, das Kalifat und damit die Führerschaft der ummah zu repräsentieren, den Sog in diese Richtung verstärken könnte.

Den Erfolg, ihr das abzunehmen, sollte man der Terrorgruppe nicht gönnen.

[1] http://www.oic-oci.org/oicv2/topic/?t_id=9241&t_ref=3695&lan=en (Zugriff 9.8.2014)

[2] http://www.dawn.com/news/1117272/sunni-cleric-says-iraq-caliphate-violates-sharia (Zugriff 9.8.2014)

[3] http://www.thejakartapost.com/news/2014/08/02/muslim-leaders-condemn-support-isil.html (Zugriff 9.8.2014)

[4] http://www.nu.or.id/a,public-m,dinamic-s,detail-ids,
54-id,53723-lang,en-c,national-t,NU+urges+govt+
to+crack+down+on+ISIS+in+Indonesia-.phpx
(Zugriff 10.8.2014)

[5] http://en.islamtoday.net/artshow-229-4878.htm (Zugriff 9.8.2014)

[6] http://www.bbc.com/news/uk-28270296 (Zugriff 9.8.2014)

[7] https://www.middleeastmonitor.com/news/middle-east/12567-prominent-scholars-declare-isis-caliphate-null-and-void (Zugriff 9.8.2014)

[8] http://en.radiovaticana.va/news/2014/07/25/worlds_muslim_
leaders_condemn_attacks_on_iraqi_christians/1103410
(Zugriff 9.8.2014)