Medizinische Wirksamkeit kann mit statistischen Methoden gemessen werden - manchmal werden Ergebnisse dann als Tortendiagramm dargestellt. Links Ganzheitsmediziner Michael Frass, rechts EBM-Experte Gerald Gartlehner.

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DER STANDARD: Evidenzbasierte Medizin (EBM) gilt in wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Debatten als Maß aller Dinge und wird für alle Behandlungen gefordert. Warum gibt es immer wieder Diskussionen darüber?

Gerald Gartlehner: Das sollte man glauben, dass jeder Patient auf dem letzten Stand der Wissenschaft behandelt wird. In der Praxis ist es so, dass es enorme Schwankungen gibt, wie ähnliche oder dieselben Erkrankungen behandelt werden. Erstmals wurde in den 1980er-Jahren in den USA festgestellt, dass es enorme Unterschiede in Diagnostik und Behandlung je nach Region gibt. In Vermont etwa schwankten die Raten für Mandeloperationen bei Kindern zwischen 15 und 60 Prozent - in einem Umkreis von 30 Kilometern. Jetzt kann beides gleichzeitig nicht richtig sein: Entweder werden die einen Kinder überbehandelt und wird etwas gemacht, das nicht nötig ist - oder andere werden unterbehandelt. Sicher ist, dass diese Diskrepanz ein Qualitätsproblem zeigt. In Österreich ist das in vielen Bereichen nicht anders. So gab es von Linz ausgehend vor wenigen Jahren eine österreichweite Studie zu Bluttransfusionen nach Hüftprothesenoperationen. Die Ergebnisse zeigten, dass in manchen Spitälern 85 Prozent der Patienten Bluttransfusionen erhielten und in anderen nur 16 Prozent. Beides gleichzeitig kann aber nicht eine Behandlung auf dem letzten Stand der Wissenschaft sein.

DER STANDARD: Wissen Ärzte also nicht, was sie tun?

Gartlehner: Es gibt sicher Sachzwänge, auch ökonomische. In Österreich ist das Medizinsystem extrem hierarchisch: Autoritäten geben vor, was gemacht werden soll. Es gibt auch Behandlungsschemata in Krankenhäusern oder Regionen, die sich eingebürgert haben und nie hinterfragt werden. Das ist aber das Ziel der EBM: medizinisches Vorgehen zu hinterfragen.

Michael Frass: Es gab vor einigen Jahren eine Untersuchung des British Medical Journal, in der gezeigt wurde, dass von 3000 medizinischen Interventionen nur elf Prozent den Kriterien der EBM entsprochen haben. Das heißt, 89 Prozent tun das nicht. Das ist kein Vorwurf an die Ärzte, sondern eine Tatsache. Es ist auch nicht immer möglich, alle Kriterien der EBM hundertprozentig zu erfüllen. In manchen Fächern ist das auch schwer - etwa in der Kinderheilkunde. Aufgefallen sind mir Änderungen auch in der Intensivmedizin.

DER STANDARD: Inwiefern?

Frass: Wir haben früher mit großer Freude den Rechtsherzkatheter eingesetzt. Dann hat man festgestellt, dass der Rechtsherzkatheter nicht so viel Informationen bringt. In der Folge wurde der Einsatz dieses Katheters reduziert. Dann kam eine andere Studie heraus, die die bisherige Ansicht, dass nämlich die Berücksichtigung von drei Werten bei der Behandlung von Intensivpatienten das Überleben verbessere, widerlegt hat. Dazu kommt, dass Ärzte, bedingt durch die Vielzahl der Studien, eine Zeit brauchen, bis sie evidente Erkenntnisse auch übernehmen.

Gartlehner: Da gibt es auch Daten dazu: Wenn man sich ansieht, wie lange es dauert, bis das aktuelle Wissen nach unten durchdringt, sind das bis zu zehn Jahre. Das gilt auch für Meinungsbildner, die Berichte in Ärztejournalen schreiben. Nicht selten dauert es Jahre, bis der wissenschaftliche Letztstand Einzug hält.

DER STANDARD: Medizinisches Wissen hat eine kurze Halbwertszeit. Kann es sein, dass Fakten schon wieder überholt sind, bis eine Evidenz von allen Ärzten übernommen wird?

Gartlehner: Ja, das ist so. Es werden pro Jahr mehr als drei Millionen wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Ein Arzt müsste 500 Studien pro Woche lesen, um up to date zu bleiben. Das schafft niemand. Wir brauchen Instrumente, die dieses Wissen zusammenfassen. Dazu gehören systematische Übersichtsanalysen in Metastudien, wie wir sie machen.

Frass: Hier zeigt sich aber auch das Problem: Mit Studien versucht man, ein Kollektiv zu erstellen. Ein solches weist aber immer eine Heterogenität auf. Das macht die Interpretation von Studien schwierig. Dazu kommt, dass konventionelle Studien meist einen einzigen Parameter betrachten, ganzheitliche Studien jedoch mehrere Variablen gleichzeitig. Es kann also auch lange dauern, bis Dinge bewiesen oder widerlegt sind. Doch generell ist es wichtig, dass Studien gemacht werden. Es gibt allerdings zu wenig Forschungsgeld und zu wenige unabhängige Forschungseinrichtungen. Dazu kommt, dass sich Behandlungen auch im Zeitverlauf ändern. Es kann sein, dass die gleiche Studie andere Ergebnisse als vor ein paar Jahren bringt.

Gartlehner: Absolut. Das zeigt sich aktuell bei der Mammografie. Viele Studien in diesem Bereich wurden zum Teil in den 1960er- und 1970er-Jahren durchgeführt. Behandlungen und chirurgische Möglichkeiten haben sich mittlerweile aber völlig verändert. Screeningstudien sind deshalb völlig veraltet.

Frass: Wie ist hier die aktuelle Evidenz?

Gartlehner: Laut derzeitiger Evidenz sollten Frauen zwischen 50 und 70 Jahren alle zwei bis drei Jahren zur Mammografie. Unter 50 könnte der Schaden durch Überdiagnosen und nicht notwendige Behandlungen sogar größer sein als der Nutzen. Die WHO wird demnächst eine Empfehlung herausgeben, die sich explizit gegen Brustkrebsscreenings bei Frauen unter 50 Jahren ausspricht. Zwischen 50 und 70 ist der Nutzen größer, aber nicht viel. Das wird von den Frauen aber um ein Vielfaches überschätzt.

DER STANDARD: Zeigt das Beispiel nicht auch die Grenzen der EBM? Die Argumente wurden in der Debatte ja kaum wahrgenommen. Anders gefragt - was nimmt die Öffentlichkeit als Wissenschaft wahr: Ihre Studien oder die Meinung von zehn Radiologen, die sagen: "Wir machen das seit 30 Jahren und kennen uns aus"?

Gartlehner: Themen wie Krebs sind so emotional, dass man mit rationalen Argumenten kaum rankommt. Das ist leider so.

DER STANDARD: Ist Medizin nicht generell emotional?

Gartlehner: Ja, aber Emotionen als Entscheidungsgrundlage sind eben nicht gut, gerade in der Medizin nicht.

DER STANDARD: Wie viel zählt Erfahrung in der Behandlung?

Frass: Ich bin der Ansicht, Medizin ist eine Kombination aus Kunst und Wissenschaft. Das ist auch die Aussage der Autoren in der angesprochenen Studie im Bereich der Intensivmedizin. Hier hat sich gezeigt, dass man auch mit Erfahrung und Können einen Patienten gut behandeln kann. Gerade in der Intensivmedizin gibt es einen weiten Raum an individuellen Entscheidungsmöglichkeiten. Da kann man derzeit nicht auf Evidenz zurückgreifen. Der Kontakt mit einem Patienten spielt eine wichtige Rolle. Was kann ich einem Patienten zumuten? Was hält er aus? Wie viel Information kann er aufnehmen?

DER STANDARD: Welche Rolle spielt dann die Empathie?

Frass: Es ist sicherlich nicht auszuschließen, dass Empathie eine Rolle spielt. Ich kann selbst auch nicht ausschließen, dass ich komplett emotionslos und vorurteilsfrei einem Patienten gegenübersitze. Ich bemühe mich zwar, aber bin mir nicht sicher, ob ich das im täglichen Betrieb so durchhalte. Inwieweit das dann Einfluss auf den Genesungsprozess hat, ist ganz schwer zu sagen. Ich bin der Ansicht, dass Empathie zwar den Wohlfühlfaktor erhöht, aber keinen Einfluss auf die Prognose eines Patienten hat.

Gartlehner: Da bin ich auf Ihrer Seite. Ich denke auch, dass Empathie ganz wichtig ist in der Behandlung. Ich denke, es ist oft sogar so, dass Ärzte zu wenig Empathie zeigen oder zumindest die schauspielerische Leistung zu wenig aufbringen, Empathie zu vermitteln. Es soll sicher nicht einfach nur utilitaristisch nach Zahlen und Daten behandelt werden. Die Individualität des Patienten ist wichtig. Aber beim Begriff ärztlicher Kunst tue ich mir schwer. Es impliziert, dass einander Arzt und Patient nicht auf Augenhöhe begegnen. Der Arzt übt Kunst aus. Der Patient ist der, an dem Kunst ausgeübt wird. Es impliziert auch, dass man für das, was man tut, nicht geradestehen muss. Die Kunst an EBM ist, den Punkt einzuschätzen, an dem man den individuellen Patienten anders behandeln muss, als es in den Leitlinien steht.

Frass: Da muss ich widersprechen. Ich habe persönlich nie das Gefühl, dass ich einem Patienten überlegen wäre. Ganz im Gegenteil. Während einer Anamnese habe ich den Eindruck, dass ich mich fast gänzlich in die Person eines Patienten hineinbewege und die Welt aus seiner Sicht sehe. Mir erscheint es ganz wichtig, mithilfe der EBM umsichtig und gewissenhaft zu sein, sich zu bemühen, richtige Entscheidungen zu treffen. Da sollte man möglichst wertfrei sein.

Gartlehner: Sie wägen Vor- und Nachteile ab, kennen die Evidenz und Möglichkeiten und beziehen dann Patientenpräferenzen ein. Das ist ein fantastisches Beispiel für evidenzbasierte Entscheidung. Sie kennen umgekehrt vielleicht das Gutachten der Ärztekammer, die vor drei Jahren eine Studie bei christlichen Moraltheologen über EBM in Auftrag gegeben hat. Herausgekommen ist, dass EBM unethisch ist, weil sie die ärztliche Kunst einschränke. Im ganzen Dokument kam das Wort Patienten nie vor, es ging immer nur um ärztliche Handlungsspielräume. Natürlich schränkt EBM auf gewisse Art Methoden ein, wenn sie Nichtwirksamkeit attestiert.

DER STANDARD: Was ist das Ziel von EBM? Qualität verbessern, Versorgung optimieren, Rechtssicherheit für Mediziner schaffen oder Kosten senken?

Gartlehner: Im Mittelpunkt der EBM steht immer der Patient. Wir wollen die beste Behandlung. Das kann manchmal dazu führen, dass es billiger wird, kann aber auch teurer werden. Kosten spielen für uns primär keine Rolle. Die drei Säulen der EBM sind: Evidenz, Erfahrung und Patientenpräferenzen. Diese drei Faktoren sollen zusammenspielen. Wenn es keine Evidenz gibt, werden die anderen beiden Säulen wichtiger. Das schließt sich in keiner Weise aus.

Frass: Es ist auch wichtig zu schauen, wie Studien gemacht werden, wer sie finanziert. Die Finanzierung beeinflusst ja auch die Richtung. Es kann etwa eine Studie zu Evidenz führen, eine andere könnte aber auch belegen, dass es etwa reicht, die Dosierung eines Medikaments zu halbieren. Das wird aber nicht untersucht. Nun ist es aber sehr unwahrscheinlich, dass eine Pharmafirma, die ein Interesse hat, Arzneimittel zu verkaufen, untersucht, wie man weniger Medikamente verbrauchen kann. Es ist schwer, in allen Bereichen komplett neutral zu bleiben.

Gartlehner: Das zeigt ein Versagen der öffentlichen Hand. In Österreich gibt es im Vergleich zu den USA oder auch zu Italien sehr wenig öffentliche Mittel für medizinische Forschung. In Italien gehen zehn Prozent des Werbeetats der Industrie in den Topf für unabhängige Forschung. Davon ist Österreich meilenweit entfernt. Und zehn Prozent ist viel. Die Zahlen aus den USA zeigen, dass der Werbeetat von Pharmafirmen doppelt so hoch wie der Forschungsetat ist.

DER STANDARD: Wird EBM also falsch verwendet?

Gartlehner: EBM wird immer wieder missbraucht. Einerseits von gesundheitspolitischen Entscheidungsträgern, um Einsparungen durchzusetzen, andererseits von der Industrie, die neue Interventionen als evidenzbasiert verkauft, weil eigene Studien dies belegen.

Frass: EBM ist wie das Wort Kunst nicht ein Fehler des Begriffs oder der Methode, sondern eine Frage, wie diese verwendet werden. Man sollte für beides keine absoluten Prinzipien aufstellen. Es ist sicher falsch zu sagen, ich wende nur Kunst an, was manche im ganzheitlichen Bereich behaupten, und umgekehrt ist es falsch zu sagen, es muss alles evidenzbasiert sein. Es wird noch relativ lange dauern, bis Chirurgen doppelblind operieren. Ich denke, es ist auch gut, wenn sie die Augen offenhalten.

Gartlehner: Absolut - das bedeutet aber nicht, dass Behandlungen nicht kritisch überprüft werden sollen.

DER STANDARD: Wer gibt Studien in erster Linie in Auftrag? Die Industrie oder andere Instanzen?

Gartlehner: Die Frage zeigt, wie wichtig öffentlich finanzierte, unabhängige Studien wären. Wenn 50 Prozent der öffentlich von der EU finanzierten Studien nicht publiziert werden, ist das nicht nur ein Pharmaindustrieproblem, sondern auch ein akademisches. Die Industrie will Geld verdienen. Das ist ihr gutes Recht. Sie hat aber auch ausgeklügelte Systeme, um Ärzte zu instrumentalisieren, damit sie neue Medikamente attraktiv machen.

DER STANDARD: Kann man Studien dann noch vertrauen?

Gartlehner: Ja, wenn man die Gesamtheit der Studien betrachtet. Deshalb ist es so wichtig, die Industrie zu zwingen, alle Daten auf den Tisch zu legen. Auch ethisch betrachtet. Patienten, die an Studien teilnehmen, tun es ja im Glauben, die Wissenschaft zu fördern. Wenn Ergebnisse verschwinden, werden Patienten irregeführt. Das Fehlen von Evidenz mit Nichtwirksamkeit gleichzusetzen, ist aber auch ein kompletter Irrtum. Es bedeutet nur, dass es keine Studien gibt. Man muss sich bewusst sein, dass es viel Unsicherheit in der Medizin gibt. Wichtig ist es deshalb, Dinge laufend zu hinterfragen.

Frass: Mit EBM lässt sich aber eben auch Scharlatanerie ausschließen. Man verhindert, dass die, die nur laut genug schreien, auch ihre Produkte verkaufen. In der Medizin ist es wichtig, genau hinzusehen. Allerdings stellt jede Studie nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit dar. Deshalb ist es schwierig, Ergebnisse auf den Einzelnen umzulegen. (Martin Rümmele, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)