Im März lässt sich Bernhard Wörmann zu einer gewagten Aussage hinreißen: "Die Heilungschancen von Krebs sind gar nicht so schlecht", schmetterte der Berliner Onkologe auf einer Pressekonferenz den anwesenden Journalisten entgegen. "Solange der Tumor klein und auf ein Organ begrenzt ist", setzt er dann aber bestimmt hinzu.
Fatalerweise jedoch bemerken die meisten Menschen die im Körper wuchernden Geschwüre erst dann, wenn sie so groß geworden sind, dass sie Organe bei ihrer Arbeit stören. Zu diesem Zeitpunkt haben sie aber oftmals bereits ihre tödlichen Samen im Körper verteilt. "Deswegen ist die Krebsfrüherkennung ja auch so wichtig", sagt Wörmann.
Frage der Interpretation
Aber eben nicht so, wie das derzeit passiert. Wörmann ist unzufrieden mit dem System, das Menschen in Normen einteilt, das persönliche Risikofaktoren kaum berücksichtigt, fragwürdigen Methoden keine Regeln setzt, "dafür aber viel zu spät reagiert, wenn neue Methoden entwickelt würden". Qualitätsgesichert - also auf Nutzen und Risiken geprüft - sei ohnehin nur das in Österreich gerade erst gestartete Mammografie-Screening, um Brustkrebs im Frühstadium zu erkennen. Und selbst diese Massenuntersuchung ist unter den Experten umstritten. Deshalb fordern Wörmann und seine Fachgesellschaft, die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie, die eng mit ihren Schwestern in Österreich und der Schweiz kooperiert, die Früherkennung endlich neu zu überdenken.
Es mutet ein wenig schizophren an, überhaupt von den "Risiken" einer Früherkennung zu sprechen. Schließlich sterben mehr Menschen in Österreich an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als an Krebs. Und auch Wörmann glaubt nicht an Wunder. "Die Zahl der Krebskranken steigt kontinuierlich an, weil die Gesellschaft altert", sagt er. Was also ist schlimmer als der drohende Tod? "Die unbegründeten Ängste, die unnötigen Eingriffe, die daraus möglicherweise folgenden Komplikationen, das falsch investierte Geld", antwortet er.
Was er damit meint, lässt sich an kaum einem Beispiel besser erklären als am Prostatakrebs. Wie kein anderes Karzinom nagt es am Fundament der Krebsvorsorge. "Sieht man nur genau genug hin, findet man bei den meisten Männern um die 50 Jahre bösartig veränderte Zellen in der Prostata", stellt Gero Kramer, Leiter des Forschungslabors für Uroonkologie an der Medizinischen Universität Wien nüchtern fest. "Dabei wären die meisten niemals an dem Krebs gestorben", fügt Kramer hinzu. Meist sei es deshalb ratsam, erst einmal abzuwarten.
Problem mit Grenzwerten
Das sehen viele seiner niedergelassenen Kollegen anders - und bieten ihren Patienten den PSA-Test an. Etwa 20 bis 30 Euro kostet so ein Test - von den Krankenkassen wird er in den meisten Fällen nicht übernommen. Er gibt die Konzentration eines Eiweißes an, das von der Prostata ausgeschieden wird. Gewöhnlich soll es die Spermienmasse verflüssigen. Sobald es jedoch im Blut einen kritischen Grenzwert überschreitet, besteht der Verdacht, dass sich ein Tumor entwickelt haben könnte.
Nur, wo genau liegt diese Grenze? Bei den meisten Männern liegt der Wert irgendwo in einem Graubereich, der auf Entzündungen, gutartige Prostatavergrößerungen oder eben im schlimmsten Fall auf Krebs in einem frühen Stadium hinweist. Es sei allein anhand des Wertes nur selten abzuschätzen, wie gefährlich der Krebs für den einzelnen Mann tatsächlich ist, so Kramer.
Dennoch lassen sich viele verunsicherte Patienten zu einem Eingriff hinreißen, der oftmals nicht notwendig ist, und nehmen die Begleiterscheinungen wie Inkontinenz oder Impotenz in Kauf. "Wir brauchen verbindliche Regeln, wann es sinnvoll ist, einen PSA-Test einzusetzen, und Regeln, wie wir mit dem Ergebnis umgehen", sagt der Berliner Krebsarzt Wörmann, "um unnötiges Leid zu verhindern."
Mammografie-Screenings
Für Frauen jenseits des 45. Lebensjahres liegen solche Regeln längst vor. Jede Österreicherin zwischen 45 und 69 erhält seit Anfang 2014 alle zwei Jahre eine Einladung zur Mammografie. Mit der Röntgenuntersuchung soll die Brust nach ersten unauffälligen Krebsgeschwüren durchleuchtet werden. Mit jährlich rund 5000 Neuerkrankungen steht Brustkrebs an der Spitze des Krebsrankings unter den Frauen. Seit Juli können sich auch Frauen von 40 bis 44 und ab 70 selbstständig online oder per Telefon für das Programm anmelden und erhalten dann ebenfalls alle zwei Jahre eine Einladung. Zudem ist das Mammografie-Screening ein qualitätsgesichertes Krebs-Früherkennungsprogramm, das einzige übrigens in Österreich: Zwei Radiologen untersuchen unabhängig voneinander die Mammografie-Bilder, gleichzeitig wird das Programm auch wissenschaftlich begleitet.
Dennoch ist längst nicht klar, wie hilfreich die systematische Suche nach den Tumoren tatsächlich ist. In den letzten Monaten mehrten sich Studien, die mehr Schaden als Nutzen durch Mammografie-Screenings attestierten: Zu viele Überdiagnosen und Therapie, wie Gewebsentnahmen bis zu Brustamputationen, verhindern kaum, dass Frauen an Brustkrebs sterben. Ulrich Bick, stellvertretender Direktor des Instituts für Radiologie an der Berliner Charité, hält trotzdem an der Mammografie fest.
"Wir haben keine Alternative. Doch unser Problem ist, dass uns die schnell wachsenden Tumore, die sich innerhalb der Intervalle von zwei Jahren bilden, entwischen", sagt er. Seine Lösung: stärker als bisher Risikogruppen identifizieren und diese intensiver untersuchen - damit würde man die große Mehrheit der Frauen entlasten.
Rare Erkrankung
Ähnliches gilt in den Augen der Krebsspezialisten sogar als Erfolgsgeschichte, wie Zelluntersuchungen, mit deren Hilfe sich Vorstufen des Gebärmutterhalskrebses entdecken lassen. Noch bis in die 1970er-Jahre führten die Tumore das Ranking der Krebserkrankungen bei Frauen an - noch weit vor dem heute so gefürchteten Brustkrebs. Mittlerweile ist Gebärmutterhalskrebs zu einer raren Erkrankung geworden, deren Auftreten in den letzten 15 Jahren um etwa die Hälfte abgenommen hat.
Jährlich wachsen bei etwa 400 Frauen in ganz Österreich die veränderten Zellen zu Krebs aus. Glaubt man der Statistik, wird etwa ein Drittel von ihnen daran sterben. Verhindern ließen sich etwa 80 Prozent der Erkrankungen durch eine Impfung gegen Papillomaviren, die so gut wie alle diese Tumore verursachen.
Seit 2007 ist der Schutzstoff auf dem Markt und soll an junge Mädchen vor dem ersten Sex verabreicht werden. Die große Masse der Frauen jedoch ist allein auf die Zelluntersuchungen, den sogenannten Pap-Abstrich, angewiesen. Damit beginnt die Einteilung in Kategorien: Pap I bis Pap V. Wobei die aufsteigende Nummerierung den Grad der Zellveränderung beziffert: I entspricht normalen Zellen; V einer bereits fortgeschrittenen Krebsstufe.
Mit Graubereichen umgehen
Das Problem der Früherkennung folgt derselben Dynamik: Die meisten Frauen liegen in der Mitte, bei Pap III, und da ist keineswegs sicher, ob sich nun aus der Zellveränderung ein Tumor entwickelt oder das Abwehrsystem die fatalen Viren erfolgreich bekämpfen kann. Von den weit mehr als 100 Papillomavirenstämme verursachen laut der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC) nur 13 davon Krebs. Rät man, ohne den Virenstamm zu kennen, zu einem Eingriff - oder wartet man erst einmal ab? Eine Studie aus Deutschland kam zu dem Ergebnis, dass bei 14,4 Prozent aller Teilnehmerinnen der Befund unnötig falsch, also krankhaft diagnostiziert wurde.
Die Entfernung der Zellen allerdings ist nicht nur belastend und fördert das Risiko von Frühgeburten, sondern sie kostet das Gesundheitswesen auch Geld. Erst im April ließ die amerikanische Zulassungsbehörde einen Test zu, mit dem die wichtigsten krebserregenden Stämme identifiziert werden können. "Solche Hilfestellungen sollten wir einführen, um die Fälle zu identifizieren, die wirklich gefährlich sind", sagt Onkologe Bernhard Wörmann.
Genauer hinzuschauen fordern die Ärzte bei der Mammografie und bei Lungenkrebspatienten. "Die Früherkennung steht vor einem Wandel", sagt Bernhard Wörmann. Neue diagnostische Verfahren wie Bluttests, und vor allem die Identifizierung von Risikogruppen, machten eine kritische Nutzenbewertung des derzeitigen Status notwendig. (Edda Grabar, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)