Der Blutdruck hängt von vielen Faktoren ab: Alter, Veranlagung und Lebensstil spiegeln sich in den inneren Werten wider.

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Ein konkretes Fallbeispiel zum Thema Bluthochdruck: Patient Norbert F. hat einen systolischen Blutdruck jenseits der 180. Seit mehr als 30 Jahren wenigstens, zuvor hatte man den heute Mittfünfziger nicht gemessen. Was hat er nach der ersten Datenerhebung nicht alles an Medikamenten zu schlucken bekommen, um seinen außerhalb der Norm stehenden Druck wieder in die medizinische Normalität zu führen.

Individuelle Normalität

Einmal gelang es weniger, einmal mehr - in letzterem Fall oft mit Nebenwirkungen wie Schwindel und Übelkeit: Der Organismus des in Wien lebenden Vorarlbergers wollte sich nicht in das strenge Korsett der Normalwerte schnüren lassen. Warum, beantwortete schließlich eine gründliche Untersuchung des durchaus voluminösen Körpers von Norbert F. Er hat, wie er es ausdrückt, "eine Aorta, so dick wie mein Unterarm". Seine anatomischen Gegebenheiten machen einen hohen Blutdruck notwendig, ansonsten kommt es zu einer Mangeldurchblutung. 180 Millimeter Quecksilbersäule sind für ihn heute seine individuelle Normalität.

Für Michael Frass von der Wiener Universitätsklinik für Innere Medizin steht es daher außer Frage, den Patienten als Individuum stets in seiner Gesamtheit zu verstehen und sich nicht nur an einem medizinischen Messwert zu orientieren: "Wir Ärzte sind angehalten, den Menschen zu behandeln und keinen Parameter", erklärt der Facharzt für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin.

Dennoch seien die meist von internationalen medizinischen Fachverbänden anhand von Studienergebnissen erlassenen Richtlinien und die darauf basierenden klinischen Leitlinien unerlässlich, "bieten sie doch eine sinnvolle Orientierung für Diagnose und Therapie". Und nicht zuletzt geben sie auch eine rechtliche Absicherung für die Therapeuten. Doch sie sind bei weitem nicht alles.

Umsetzung hapert

Normwerte und davon abgeleitete klinische Leitlinien gelten in der evidenzbasierten Medizin zwar als wichtiges Instrument, um die Versorgungsqualität von Patienten zu sichern beziehungsweise zu verbessern. Zahlreiche Studien weisen aber darauf hin, dass es bei der ärztlichen Umsetzung von Leitlinien noch hapert. Und dennoch sprechen viele medizinische Erfolge eine deutliche Sprache. Führen also mehr Faktoren zum Ziel als nur die definierten Standards? Hängt die korrekte Umsetzung von medizinischen Leitlinien möglicherweise nicht vom Wissen über entsprechende Handlungs- und Entscheidungsempfehlungen ab?

Eine deutsche Forschergruppe um Ute Karbach von der Medizinischen Fakultät der Universität Köln ging dieser Frage auf den Grund und untersuchte die Umsetzung kardiovaskulärer Leitlinien in der hausärztlichen Praxis. Das Resultat: Nur 40 Prozent der untersuchten Ärztinnen und Ärzte verfügten "definitionsgemäß über eine adäquate Leitlinienkenntnis". Trotzdem setzten die Mediziner mit und ohne Leitlinienwissen die Empfehlungen in zwölf von 16 Indikatoren nahezu gleich um. Vier Indikatoren wurden von Ärzten "ohne adäquate Leitlinienkenntnis" sogar zu einem höheren Anteil erfüllt. Für die Forscher führen demnach viele Wege nach Rom - neben Leitlinienwissen auch medizinische Qualifikation, Erfahrung und vor allem: ärztliche Intuition.

Diskussionen um Richtwerte

Diese Erkenntnis ist für Michael Frass, der auch Präsident des Dachverbandes Österreichischer Ärztinnen und Ärzte für Ganzheitsmedizin ist, nicht überraschend: "In der Medizin ist eine intuitiv erfasste Kombination aus Wissenschaft und Kunst vorteilhaft." Schließlich gebe in keiner medizinischen Disziplin eine zu 100 Prozent auf den jeweiligen Patienten zutreffende wissenschaftliche Aussage; die Fähigkeit, sich auf den einzelnen Patienten individuell einzustellen, kennzeichne den guten Arzt. "Da lässt sich die Intuition nicht ausklammern."

Denn die Aussagen evidenzbasierter Studien träfen zwar unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen in den meisten Fällen zu. "In Einzelfällen können aber Randbedingungen eine entscheidende Rolle spielen." Und auch die medizinischen Richtlinien, die sich immer wieder ändern, müssten permanent hinterfragt werden. Frass: "Ich kann mich noch gut an die Diskussion über Cholesterin-Richtwerte erinnern. In den 1980er-Jahren lag der obere Wert bei 250, er wurde dann langsam auf 220 gesenkt, schließlich auf 200. Ich glaube, das ist viel zu streng angesetzt." Es gebe viele schlanke und gesundheitsbewusste Menschen, die keinerlei Risikofaktoren hätten außer einem Cholesterinwert von über 200. In seinen Augen seien diese gesund, nach den Richtlinien jedoch krank und gehörten daher therapiert.

Aber nicht nur die. Bei Patienten mit Nierenkrebs führt ein höherer Cholesterinwert zu einer höheren Lebenserwartung. Das ist das zentrale Ergebnis einer aktuellen Studie an der Wiener Universitätsklinik für Urologie, die im "British Journal of Urology" veröffentlicht wurde: Cholesterinwerte, die im Bereich der derzeit gültigen Normalwerte respektive Richtwerte lagen, waren verbunden mit fortgeschrittenen Tumorstadien und einer stärkeren Ausbreitung der Krebserkrankung. Patienten mit höherem Cholesterin hatten indes ein um 43 Prozent niedrigeres Risiko, an Nierenkrebs zu sterben, erklärt Tobias Klatte, einer der Studienautoren. Grundsätzlich bedeute diese Entdeckung aber nicht, dass man künftig den Cholesterinwert generell anheben sollte, aber die Normwerte müssten auf ihre individuelle Sinnhaftigkeit geprüft werden.

Im Spannungsfeld von Interessen

Die medizinischen Normwerte für die Menschheit ändern sich immer wieder nach Bekanntwerden von großen Studien, "und wir wissen alle, dass diese Studien sehr oft von der Pharmaindustrie finanziert werden, weil sonst niemand das Geld dafür hat", erklärt Frass. Dies sei aber kein Vorwurf, im Gegenteil - mit den medikamentösen Segnungen der Pharmaindustrie werden jeden Tag Leben gerettet. Dennoch sei die Interpretation dieser Studienergebnisse mitunter zu hinterfragen. "Das ist ein wissenschaftliches Problem, in das das allzu Menschliche hineinspielt", sagt der Internist, "warum soll zum Beispiel eine Pharmafirma Interesse daran haben, eine Studie zu finanzieren, deren Ergebnis dann ergibt, dass eine Dosisreduktion zum gleichen Ergebnis beim Patienten führt?"

Dieses Spiel funktioniere in Einzelfällen aber auch umgekehrt, erklärt Albert Lingg von der Abteilung für Psychiatrie am Vorarlberger Landeskrankenhaus Rankweil. Bei der Markteinführung von Antidepressiva der Klasse SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer), "die kaum besser wirkten als die bereits vorhandenen analogen Antidepressiva", sei mit gewaltiger Marketinganstrengung der Pharmaindustrie die Schüchternheit plötzlich zu einer neuen Krankheit ausgerufen worden - die sich natürlich mit diesen SSRI behandeln lasse.

"War es bis dahin normal, dass jemand Lampenfieber gehabt hat, war es jetzt plötzlich abnormal", verdeutlicht Lingg. Die Folge: Millionen von Menschen waren plötzlich krank und schluckten Pillen. Und bei der bisher letzten Überarbeitung der psychiatrischen Leitlinien sei denn auch prompt eine neue Krankheit dazugekommen, die es mit Antidepressiva zu behandeln galt: "Früher war es normal, dass manche Menschen beispielsweise nach dem Todesfall des Partners oder Kindes lange Zeit, auch über ein Jahr hinaus, trauerten", verdeutlicht der Psychiater: "Mit den neuen Leitlinien galten sie nach zwei, drei Wochen bereits als krank und behandlungsbedürftig. Und wir alle wissen, dass in dem Gremium, das diese Leitlinien erarbeitet hatte, auch genügend Vertreter der Pharmaindustrie saßen."

Generell aber bestreitet Lingg ebenso wenig wie Frass und die Mehrheit der Mediziner die Sinnhaftigkeit solcher Richtlinien. Doch sind sie für den Psychiater nur "ein Werkzeug, das man auch richtig anwenden muss". Der Fokus dürfe niemals nur auf der Biologie liegen, auch soziale, kulturelle und psychologische Komponenten gelte es individuell abzuklären.

Angst vor Schadenersatz

Eines aber stört den Psychiater: "Der Spielraum der Ärzte wird immer kleiner, allen Medizinern sitzt zunehmend die Angst vor den Patientenanwaltschaften und Gerichtsverfahren im Nacken, heute werde sofort geklagt, wenn eine Behandlung nicht so verläuft, wie sie verlaufen könnte." Halte sich der Mediziner stur an Normwerte und Richtlinien, also an die sogenannten Goldstandards für Diagnose und Therapie, und mache keinen Fehler, sei er rechtlich abgesichert, selbst dann, wenn dem Patienten dadurch ein Schaden entstehe. Verlasse er den normierten Weg, weil der Mediziner es im individuellen Fall für sinnvoller erachte, so riskiere er eine strafrechtliche und zivilrechtliche Verurteilung und den Verlust seiner Zulassung.

Diese gesellschaftliche Entwicklung beunruhigt auch die Sonder- und Heilpädagogin Andrea Strachota, die am Institut für Bildungswissenschaft der Uni Wien lehrt und forscht. Einer ihrer Schwerpunkte liegt auf der Pränataldiagnostik (PND), sie ist auch Mitbegründerin von Prenet, dem österreichischen Netzwerk für eine kritische Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik: "Die zunehmende Anzahl von Klagen, Gerichtsurteilen und Höchstgerichtsentscheidungen übt auf Mediziner und Medizinerinnen einen gewaltigen Druck aus, während der Schwangerschaft nur ja nichts zu übersehen. Dies wiederum führt dazu, dass Ärzte und Ärztinnen den Druck auf die Schwangeren weitergeben und Pränataldiagnostik sehr offensiv anbieten - manche Frauen erleben dies nahezu als ein Gedrängtwerden."

Folgen in der Praxis

Eine der Folgen: Da Menschen beispielsweise mit Trisomie 21 nicht dem genormten Menschenbild der heutigen Gesellschaft entsprächen, würden bei entsprechender Diagnose immer mehr Schwangerschaften abgebrochen, nicht zuletzt, da das österreichische Rechtssystem "bei embryopathischer oder eugenischer Indikation die Abtreibung des Kindes bis zur Geburt straffrei stellt". Ganz abgesehen davon seien auch die entsprechenden Norm- beziehungsweise Grenzwerte hier relativ flexibel, beklagt Strachota: "Wird im Ultraschall eine Nackenfalte von 2,5 Millimetern gemessen, schrillen in einem Krankenhaus oder PND-Zentrum bereits die Alarmglocken, in anderen österreichischen Spitälern erst ab drei Millimetern. Und ich habe gehört, dass Kinder, bei denen fünf Millimeter gemessen worden waren, völlig gesund beziehungsweise nicht behindert zur Welt kamen."

Es sei das Konzept der Normalität, so Strachota, das ein breites Spektrum von Abweichungen diagnostizierbar macht: Erst die sogenannte Normalität erzeuge Phänomene des Abnormalen. "Die Beschreibung und Bewertung von Erscheinungsbildern als krank oder gesund ist abhängig vom zugrundeliegenden Krankheitsbegriff, und dieser ist eingebettet in ein gesellschaftliches Interpretationssystem mit seinen verschiedenen Standards von Normalität." Doch Normalität sei lediglich ein gesellschaftliches Konstrukt, das auf statistischen Daten und Durchschnittswerten basiert. An die Stelle der Individualität trete die Mittelmäßigkeit im Sinne der Durchschnittlichkeit.

Durchschnitt als Maß aller Dinge

Höhepunkt dieser Entwicklung scheint Strachota die sogenannte personalisierte Medizin zu sein: Sie stelle keine Hinwendung zum kranken Menschen in seiner Persönlichkeit dar - im Gegenteil: "Der kranke Mensch wird auf seine genetische Disposition reduziert - ein anthropologischer Reduktionismus." Die personalisierte Medizin sei eine Medizin, die molekularbiologische beziehungsweise genetische Informationen nutzt - mit dem Ziel, Krankheiten zu verhindern beziehungsweise zu diagnostizieren und zu behandeln. Sie basiere auf Standardisierung und statistischen Vorhersagen. "Es handelt sich dabei um eine biologistische Reduktion, die soziale, biografische oder psychosomatische Aspekte völlig ausblendet. Der einzelne - kranke - Mensch ist aber nicht berechenbar", erklärt Strachota.

Und dennoch: Ist dieses außerhalb der Norm Stehende therapierbar, wird behandelt. Vor gut zehn Jahren senkte die US-Gesundheitsbehörde NIH aufgrund von Studienergebnissen die Richtlinien für Bluthochdruck drastisch: Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen beginne bereits ab 115/75 mmHg, berichtete sie in der Fachzeitschrift "British Medical Journal". Die Folge: Millionen Menschen waren über Nacht zu Blutdruckpatienten geworden, wurden medikamentös behandelt - ein Segen für die Pharmaindustrie. Anfang dieses Jahres kamen neue US-Richtlinien heraus, die je nach Alter und sonstigen Risikofaktoren einen Druck von bis zu 130 beziehungsweise 140 zulassen. Ende des Jahres sollen aber schon wieder neue Leitlinien erstellt werden. In Österreich hat man sich auf einen Druck von maximal 135 geeinigt, 120 werden empfohlen. (Andreas Feiertag, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)