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Der Wissenszugewinn bezüglich der genetischen Grundlagen von Erkrankungen ist in voller Fahrt.

Foto: dpa/Angelika Warmuth

Eine Zukunftsvision: Es geht ein Mann zur Ärztin und klagt über Bauchschmerzen. Sie ruft seine elektronische Patientenakte auf. Auf dem Bildschirm ihres PCs erscheinen lange Kolonnen aus Zahlen und Buchstabenkombinationen. Das Suchprogramm wird fündig.

Der Mann trägt eine seltene Mutation im 2022 entdeckten Gen KrxZ und gehört somit zur Risikogruppe für die Entstehung von Magenkrebs Typ K. Wenige Tage später bestätigt die Auswertung einer Gewebeuntersuchung den Verdacht. Grund zur Panik gibt es indes nicht. Dieser Tumortypus lässt sich inzwischen bestens durch den Einsatz von maßgeschneiderten, im Labor hergestellten Antikörpern bekämpfen. Die Heilungschancen liegen bei 96 Prozent.

All das ist Fiktion, doch viele Wissenschafter hoffen bereits seit längerem auf enorme Fortschritte durch die Entwicklung einer personalisierten Medizin. Ihr soll vor allem durch molekularbiologische Erkenntnisse Vorschub geleistet werden. Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts und der darüber gesteuerten Stoffwechselprozesse soll es Ärzten ermöglichen, Behandlungen optimal an die individuellen genetischen und physiologischen Profile ihrer Patienten anzupassen.

Man könnte besser präventiv eingreifen, und sogar die Anfälligkeit für Nebenwirkungen von Medikamenten ließe sich genau abschätzen. Ist das realistisch? "Das ist schon ein bisschen wie des 'Kaisers neue Kleider' ", meint der Wiener Tumorchirurg Michael Gnant von der Med-Uni Wien. "Wir sind noch weit davon entfernt." Doch es gibt bereits relevante Erfolge, betont der Fachmann.

Fakt und Prognose

Welches Potenzial die personalisierte Medizin womöglich birgt, lässt sich an Durchbrüchen in der Behandlung bestimmter Tumorerkrankungen wie Brustkrebs erahnen. "Wir unterscheiden mittlerweile zwischen vier verschiedenen Brustkrebstypen", erklärt Gnant. Drei davon tragen jeweils eine Sorte von Hormonrezeptoren in erhöhter Zahl an ihren Zelloberflächen: ER für Östrogen, PR für Progesteron oder HER2 für ein bestimmtes Onkogen. Die sogenannten Triple-negativ-Tumore dagegen verfügen über keine dieser drei Merkmale. In dieser vierten Kategorie, sagt Gnant, sind wahrscheinlich mindestens vier weitere Subtypen enthalten. Insgesamt könnten sogar einige Dutzend unterschiedliche Brustkrebsvarianten existieren.

Die Vielfalt stellt für Mediziner nicht nur eine Herausforderung dar, sie bietet auch Chancen. Die Hormonrezeptoren sind zwar nicht direkt für die Entstehung der Tumore verantwortlich, doch sie kurbeln deren Wachstum an. Ein solcher Effekt lässt sich durch Einsatz spezieller Medikamente ausbremsen. Der künstliche Antikörper Trastuzumab etwa blockiert den Rezeptor HER2 und verhindert so dessen Aktivierung. "Durch die zielgerichtete, spezifische Therapie haben die Patientinnen eine viel bessere Prognose", sagt Gnant. Ihre Überlebensdauer habe sich fast verdoppelt.

Präzise Identifizierung

Wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist die präzise Identifizierung des Tumortyps. Wenn dies nicht geschieht, kommt es mitunter zu gefährlichen Nebenwirkungen, wie der Molekularpathologe Gregory Tsongalis von der Geisel School of Medicine in Darthmouth/USA erläutert. Beim Einsatz von Trastuzumab können die Risiken besonders tückisch sein, erklärt er. Falls der HER2-Rezeptor nicht in stark erhöhter Zahl vorhanden ist, greift der Wirkstoff ein anderes Ziel an - die ebenfalls mit HER2 ausgestatteten, gesunden Herzmuskelzellen. Die fehlbehandelte Patientin entwickelt Herzprobleme.

Die Komplexität der Thematik spiegelt sich auch in einer neuen Studie von Gnant und seinen Wiener Kollegen wider. Die Wissenschafter analysierten den Zusammenhang zwischen dem Auftreten von verschiedenen Hormonrezeptoren und der Bildung von Metastasen. Bei der Untersuchung der Tumorgewebeproben von insgesamt 110 betroffenen Frauen zeigte sich, dass eine kombinierte Überproduktion von HER2 und dem bislang nur wenig erforschten Rezeptor HER3 offenbar die Metastasierung fördert und die Überlebenschancen deutlich reduziert. Gelänge es, gezielt beide Rezeptoren zu blockieren, würden sich die Prognosen verbessern.

Doch allen positiven Perspektiven zum Trotz: Die personalisierte Medizin wirft auf gesellschaftlicher Ebene viele Fragen auf. Personalisierte Medizin bedeutet nicht individualisierte, persönliche Betreuung durch den Arzt, wie man vermuten könnte. Sondern vielleicht gerade das Gegenteil. In der Erstellung und Verwendung von persönlichen genetischen Profilen liegt auch eine große Gefahr. Seien solche Praktiken einmal in der Welt, fürchten Kritiker, ließen sie sich nicht mehr kontrollieren.

Daten und Kosten

Zum einen sind es Bedenken zum Datenschutz: Wer sichert die Erbgutanalysen vor Missbrauch? Und wer verhindert genetische Diskriminierung von Risikogruppen? Zum Beispiel wenn es um Behandlung geht.

Auf der anderen Seite jedoch übt die personalisierte Medizin zunehmend Druck auf das Gesundheitssystem aus. "Die Entwicklung ist beängstigend kostenintensiv", erklärt Michael Gnant. Einzelne Behandlungen können rasch mit sechsstelligen Eurosummen zu Buche schlagen. Da stellt sich schnell die Frage: Lohnt sich das? Könnte das Geld nicht woanders besser eingesetzt werden?

Mitunter wird das Überleben von Patienten ja einstweilen nur um wenige Monate verlängert. In den USA und Großbritannien kommen manche Therapien deshalb nicht automatisch zum Einsatz, berichtet Gnant. Aus Kostengründen eben. Hierzulande würden solche Entscheidungen gleichwohl auf heftigen Widerstand stoßen. "Wir haben eine verständliche Scheu davor, über den Wert von Lebenszeit zu diskutieren."

Dennoch müssten diese Aspekte sachlich debattiert werden, meint er. Die finanziellen Ressourcen seien nun mal nicht unbegrenzt. Wenn die Verteilung der Mittel nicht klar geregelt ist, könnte dies verschiedene Interessengruppen gegeneinander aufbringen und den sozialen Frieden beeinträchtigen.

Weiterer Fortschritt

Die wissenschaftliche Weiterentwicklung der personalisierten Medizin wird indes fortschreiten, ist Gnant überzeugt. Auch umfassende genetische Tests werden zukünftig gängige Praxis sein. Mit den Risiken solcher Erhebungen muss sich die Gesellschaft auseinandersetzen. "Prohibition wird nicht funktionieren", betont Gnant. "Man muss ein Wertegerüst entwickeln und dieses dann so gut wie möglich durchsetzen."

Gregory Tsongalis mahnt zur Vorsicht bei der Bewertung von genetischen Profilen, gerade im Bereich der Onkologie. "Krebsleiden sind komplexe Krankheiten", betont er. Ihre Entstehung sei vermutlich nur zu 20 bis 25 Prozent erblich bedingt, alles andere hänge von der Umwelt und anderen Faktoren ab. Und deren Auswirkungen werden sich wohl nie zuverlässig vorhersagen lassen (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, CURE, 19.8.2014)