"Als Familie müssen wir ein neues Verständnis füreinander entwickeln", sagt Matt Berninger (li.) über das Verhältnis zu seinem Bruder Tom, der darüber - und über Matts Band The National - einen Film gedreht hat.

Foto: Polyfilm

"Ich würde jeden Film machen, der mir erlaubt, aus der Garage meines Bruders auszuziehen", scherzt Tom, der neun Jahre jüngere Bruder.

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Der eine ist ein Rockstar, der andere ein verkrachter Filmemacher: Matt Berninger und sein neun Jahre jüngerer Bruder Tom. Nun hat Tom einen Film gemacht, der am Rande auch ein Bandporträt von The National (am Dienstag live in der Arena Wien) geworden ist, in erster Linie aber ein (immer wieder komisches) Experiment in Familientherapie mit Kamera.

STANDARD: Tom, wie berühmt ist eigentlich Ihr Bruder Matt?

Tom Berninger: Ich musste erst mit ihm auf Tournee gehen, um zu begreifen, dass er ein richtiger Star ist. Inzwischen hole ich aber auf. Eines Tages werde ich berühmter sein als er. Ich halte es da mit Darth Vader: Ich war der Lehrling, jetzt bin ich der Meister.

STANDARD: Sie suchen Ruhm und Erfolg auf dem Feld des Kinos. Glauben Sie, dass das als Dokumentarfilmer aussichtsreich ist?

Tom: Ich würde jeden Film machen, der mir erlaubt, aus der Garage meines Bruder auszuziehen.

STANDARD: Auch ein Remake Ihres Studentenfilms über einen Barbaren in der Identitätskrise?

Matt: Er wird daraus ein erfolgreiches Franchise machen!

Tom: Der Film, den Sie erwähnen, war meine Senior Thesis an der Montana State University.

STANDARD: Matt, in "Mistaken for Strangers" geht es um Sie und Ihren Bruder. Aber auch um die Band The National. Viele werden sich den Film deswegen anschauen. Wie kommt die Band rüber?

Matt: Die Band ist gut dargestellt, ich persönlich komme vielleicht nicht so gut rüber, wirke launisch. Es ist für die Fans aber wichtig zu wissen, dass es nicht in erster Linie um die Band geht. Tom hatte ursprünglich ja auch gar nicht den Auftrag, einen Film zu machen, er sollte höchstens ein paar Szenen für die Webseite drehen.

STANDARD: Nennen Sie eine klassische "Rock-Doc", die Sie mögen.

Matt: Glorifizierende Bandporträts interessieren mich eigentlich nicht. Gimme Shelter handelt auch nicht in erster Linie von den Rolling Stones, sondern von einer Kultur, die sich aufzulösen beginnt. Gute Rock-Docs handeln von Beziehungen, Ängsten, Ambition, Alkohol, Drogen, und nicht nur von Musik. In Don't Look Back bekommt man ein Gefühl davon, wer Bob Dylan ist und in welcher Welt er lebt. Die besten Einblicke bekommt man vielleicht immer von der Seite.

STANDARD: War es ein Gefühl von Verantwortung des älteren Bruders, dass Sie Tom einluden, mit auf Tournee zu kommen?

Matt: Er brauchte einen Job, und ich wollte ihn dabeihaben. Was er mit der Kamera machte, war gar nicht so wichtig. Etwas Cooles halt. Dass etwas so Ambitioniertes herauskommen würde, hätte ich nie gedacht. Eine Platte zu machen ist im Vergleich einfach. Bei Mistaken for Strangers sprach vieles dafür, es einfach hinzuschmeißen. Tom zog es aber durch.

Tom: Das mit der Kamera war anfangs Nebensache. Ich war eher ein Roadie. In erster Linie ging es darum, dass ich einen Job hatte, Europa sehen und mit meinem Bruder Spaß haben konnte. Als Roadie war ich aber nicht sehr gut. Und so versuchte ich eben, gutes Material zu drehen. Mir kam vor, ich versäumte immer alles Wichtige, dabei filmte ich sehr viel. Das meiste schien mir nicht verwendbar.

STANDARD: Es gibt ein tolles Bild im Film, da sieht man, wie Sie mit vielen Haftnotizen an der Wand versuchen, das Material zu organisieren. Wie viel hatten Sie denn?

Tom: Ein bisschen über 200 Stunden. Für acht Monate auf Tour ist das gar nicht so viel.

STANDARD: Wie wichtig war Carin Besser, Matts Frau, für den Schnitt?

Tom: Oh, sie hat mich wirklich rausgehauen. Sie ist unsere Geheimwaffe. Sie hat viele Jahre als Fiction-Editor für den New Yorker gearbeitet, das gibt ihr ein gutes Gefühl für Rhythmus. Sie hat den Film in vielerlei Hinsicht gerettet: Es war ja entscheidend, herauszufinden, wie viel von mir im Film sein konnte. Sie wusste das alles.

STANDARD: Matt sagt an einer Stelle: Der Erfolg der Band kam, als sie es schafften, ihre Ängste in der Musik zuzulassen. Das trifft auch auf den Film zu, oder?

Tom: Ja, das trifft ganz und gar zu. Ich hatte auch nichts zu verlieren an diesem Punkt. Das war eine große Chance, für die ich mich öffnen musste. Allmählich wird mir auch klar, wie viel ich hier von mir preisgegeben habe.

STANDARD: Das Spiel mit der Authentizität durchzieht sowohl das Leben eines Rockstars wie auch interessante Mischformen des Dokumentarischen. Denken wir an "I'm Still Here" mit Joaquin Phoenix.

Tom: Darauf habe ich gesetzt. Ich fake aber nicht. Das ist alles tatsächlich so. Unsere Beziehung, meine schlechten Seiten, meine Süchte. Matt und die Band haben sich darauf eingelassen. Der Film ist hoffentlich eine Inspiration für Leute, die sich selber nicht mögen, damit umzugehen, ihre Stimme zu finden.

STANDARD: Manche Szenen wirken wie psychotherapeutische Sitzungen.

Tom: Die anderen Bandmitglieder wurden meine Psychologen, und für mich war das eine gute Weise, sie in den Film zu kriegen, und sie über Matt zum Sprechen zu bringen.

Matt: Tom fragt gar nicht so viel über die Band, über die Platten, über die Karriere. Er kriegt aber eine Menge heraus.

STANDARD: Wie war die Begegnung mit Werner Herzog, den Tom einmal vergessen hatte, auf die Gästeliste zu setzen?

Matt: Er blieb aber nicht draußen, es hat sich alles geklärt. Wir hatten einmal ein Abendessen mit ihm und seiner Frau; es gab Gespräche, dass er ein Video machen könnte. Wir kannten auch viele Leute, die in der Serie Lost spielten. Sie sind dann ja auch bei uns hinter der Bühne. Tom hat nicht alles vermasselt.

Tom: Ich bin sicher, Herzog kann sich nicht an mich erinnern. Er hat mir aber die Hand gegeben. Mein Barbarenfilm war von Aguirre inspiriert und von Jean Jacques Annauds Am Anfang war das Feuer. Ich glaube aber, meine Stupidität würde Herzog nicht zusagen.

STANDARD: Zwischen Ihnen gibt es einen nicht geringen Altersunterschied. Wie erlebten Sie die Jugend in Cincinnati?

Matt: Unser Vater war Anwalt, unsere Mutter Lehrerin, dann Hausfrau. Beide waren sehr kunstinteressiert. Die Mutter malte, der Vater machte Skulpturen, keiner aber machte eine Karriere daraus. Es gab bei uns großen Respekt für Kreativität, aber auch großen Respekt für das Bezahlen von Rechnungen. Es war keine Boheme-Kindheit, aber sehr offen. Ein sehr gesunder Ort. Ich war ein Teenager und Tom ein Baby. Und nun treffen wir zum ersten Mal wieder als Erwachsene aufeinander. Als Familie müssen wir ein neues Verständnis füreinander entwickeln.

Tom: Die meiste Zeit war ich ein Einzelkind. Cincinnati ist eine katholisch-konservative Stadt. Die Eltern waren aber sehr liberal.

STANDARD: Ihre Schwester Rachel ist nicht im Film. Wollte sie nicht?

Matt: Doch. Es setzte ihr ziemlich zu, dass sie nicht vorkommt. Es gibt ein langes Gespräch mit ihr für das Bonusmaterial. Sie kam mit Platten von den Smiths, U2, und REM nach Hause und brachte mich in Kontakt mit cooler Musik.

STANDARD: Ein wichtiges Thema ist der Rock-'n'-Roll-Lebensstil. Matt, Sie sind der Bandleader, aber es ist eher Tom, der das wilde Leben zu leben scheint. Eine Altersfrage?

Matt: Wenn man nicht Keith Richards ist, ist das nicht ewig machbar. Viele junge Bands romantisieren einen zerstörerischen Lebensstil. Wir sahen schnell, dass wir nicht lange durchhalten würden. Wir sind auch von den Persönlichkeiten her anders. Ich gehe auf der Bühne aus mir heraus, gehe aber kaum zu den Afterpartys. Man kürzt sonst alles ab - die Zeit der Band, die Zeit des Lebens. Als wir Vorgruppe für REM waren, sagte Michel Stipe zu mir: Don't blow it. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 11.8.2014)