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Georg Stöllinger mit Lamoth-Direktorin Samara Hutman.

STANDARD: Die Frage der Mitverantwortung richtet Ihre Generation nicht mehr an die Eltern, meist auch nicht mehr an die Großeltern, sondern an anonyme Vorfahren. Eigentlich hätten Sie sagen können, Sie seien persönlich nicht involviert. Warum haben Sie sich dennoch mit dem Gedenkdienst für eine offensive Form der Vergangenheitsbewältigung entschieden?

Stöllinger: Ich war einfach historisch komplett unterversorgt. Während meiner technischen Schulausbildung ist Geschichte leider viel zu kurz gekommen. Der Gedenkdienst war daher eine großartige Gelegenheit, mich mit dem Holocaust intensiv auseinanderzusetzen. Und die Frage, ob man nun persönlich involviert ist, stellt sich nicht: Es geht um die Vergangenheit der Gesellschaft, in der ich lebe.

STANDARD: Sie haben Ihren Gedenkdienst im Los Angeles Museum of the Holocaust (Lamoth) geleistet. Was waren dort Ihre Aufgaben?

Stöllinger: Diese waren sehr vielfältig und reichten von Arbeiten im Archiv, Übersetzungen von alten Briefen und Postkarten bis hin zur Betreuung der Museumstechnik. Vor allem aber habe ich Zeitzeugen zu Vorträgen in kalifornische Schulen begleitet und als ihr persönlicher Betreuer dadurch eine intensive Beziehung zu vielen Holocaust-Überlebenden aufbauen können.

STANDARD: Wie wird der Einsatz der österreichischen Gedenkdiener von Überlebenden des Holocaust aufgenommen?

Stöllinger: Absolut positiv, in jeder Hinsicht. Es gab keine negativen Erlebnisse.

STANDARD: Als Österreicher kommen Sie aus einem "Täterland". Gab es nie Ressentiments Ihnen gegenüber?

Stöllinger: Nein. In zwölf Monaten hat nicht einmal wer auf mich gezeigt und gesagt, dein Land, deine Vorfahren sind mit schuld an den Millionen Toten.

STANDARD: Auch keine Fragen, warum sich Österreich so lange in seiner Opferrolle eingeigelt hat?

Stöllinger: Darüber habe ich einmal ein längeres Gespräch geführt. Ja, ich habe in Amerika Menschen getroffen, die ganz erstaunt waren, dass sich Österreich heute nicht mehr in der Opferrolle sieht. Was nicht heißt, dass man sich offen der Vergangenheit stellt. Die deckt man bei heiklen Themen in Österreich auch heute noch gerne zu - doch Geschichte lässt sich nicht vergraben.

STANDARD: Viele Holocaust-Überlebende haben Österreich so in Erinnerung, wie sie es damals verlassen mussten - und trauen sich oft nicht mehr, nach Österreich zu blicken. Sahen Sie sich als Gedenkdiener auch als eine Art Brückenbauer zum heutigen Österreich?

Stöllinger: Sicher war ich auch eine Art Botschafter Österreichs. Wobei viele der Überlebenden nach dem Krieg wieder in ihre ehemalige Heimat gereist sind. Aber natürlich habe ich auch Menschen getroffen, die gesagt haben, sie würden nie wieder einen Fuß auf österreichischen Boden setzen. So eine Haltung kann man durchaus verstehen, und man muss sie vor allem akzeptieren.

STANDARD: Ist für Holocaust-Überlebende der Umgang mit jungen Menschen leichter, nach dem Motto "Bei den Älteren weiß man nie, was sie früher gemacht haben"?

Stöllinger: Mit jungen Leuten ist es definitiv einfacher. Der Blickwinkel ist ein anderer, da die persönliche Verbindung zur Vergangenheit fehlt. Das macht auch ein unbefangenes Gespräch möglich.

STANDARD: Wie geht man mit den Erfahrungen als junger Mensch um - kehrt man nach zwölf Monaten anders nach Österreich zurück?

Stöllinger: Die Schicksale lassen niemanden kalt. Wenn du Filme sieht, in denen Soldaten kleine Kinder packen und so lange gegen Wagons schleudern, bis sie tot sind, dann löst das eine unglaubliche Betroffenheit aus. Eigentlich kann man mit solchen Bildern kaum umgehen. Sicher war es ein Jahr, das mich verändert hat. Man lernt einfach, vieles wieder mehr zu schätzen. (Markus Rohrhofer, DER STANDARD, 11.8.2014)