cover: Atrium-Verlag

10. Mai 1933: Auf dem Berliner Opernplatz werfen die Nazis Bücher unliebsamer Autoren ins Feuer, darunter Werke von Freud, Tucholsky oder Alfred Kerr. Und von Erich Kästner. Ihn hatte vor allem sein Roman Fabian für die Nazis zum Vertreter einer "dekadenten Asphaltliteratur" gemacht. Weiterarbeiten durfte der Erfolgsautor in der NS-Zeit trotzdem: Zwar hatte er offiziell Publikationsverbot und wurde von der Gestapo schikaniert. Doch durfte er die NS-Unterhaltungsindustrie mit harmlosen Filmdrehbüchern füttern und in ausländischen Verlagen publizieren.

Anders hätte es für ihn wohl ausgesehen, wäre der Fabian in seiner ursprünglichen Form veröffentlicht worden. Denn das, was unter diesem Titel 1931 in der "Deutschen Verlags-Anstalt" erschien, war nur die entschärfte Fassung. Der Roman, den Kästner dem Publikum eigentlich zumuten wollte, war um einiges radikaler. Hätte sein besorgter Lektor Curt Weller von ihm nicht Kürzungen und Änderungen verlangt, hätte es Kästner in der NS-Zeit wohl schwerer gehabt, vermutet Sven Hanuschek. Dem Münchner Literaturwissenschafter ist es zu verdanken, dass Kästners großer Zeit- und Sittenroman nun erstmals so gelesen werden kann, wie er vom Autor geplant war. Rekonstruiert hat Hanuschek die "imaginäre Erstausgabe" des Romans unter dem ursprünglich vorgesehenen Titel Der Gang vor die Hunde auf der Grundlage eines im Marbacher Literaturarchiv befindlichen Typoskripts Kästners.

Zwar ist der Weg, den Kästners zunehmend desillusionierter Protagonist Fabian durch das Berliner Nacht- und Sittenleben geht, weitgehend derselbe. Doch ist die Urfassung um einiges konkreter und plastischer: von Fabians "Sexualapparat", den eine vorsichtige Verkäuferin bei einem One-Night-Stand "wie ein alter Kassenarzt" im Lichte einer Taschenlampe begutachtet, bis zu einem "Gummiglied", dessen Verwendung der Held bei einer Lesbenshow beobachten kann.

Gerade die stark gekürzte Bordellszene im vorletzten Kapitel zeigt, wie sehr die vermeintlichen Obszönitäten im Dienst der umfassenden Sitten- und Gesellschaftskritik Kästners stehen - und wie wenig sie von der politischen Botschaft des Romans zu trennen sind: Ist doch der alte Schulfreund Wenzkat, der Fabian in jenes Etablissement schleppt, beim paramilitärischen Stahlhelmbund. Und sein autoritärer Charakter manifestiert sich gerade in seinen sexuellen Neigungen.

Kästners Lektor fand die ersten Kapitel so pessimistisch, dass er sie als "geradezu erkältend" bezeichnete. Das dritte Kapitel, in dem Fabian seinem Chef vorwirft, seine "Tippfräuleins über den Schreibtisch" zu legen, musste der Autor komplett streichen. Das hatte allerdings inhaltliche Folgen: Warum Fabian kurz darauf seinen Job als Werbetexter verliert und sich in das Heer der Arbeitslosen einreihen muss, wurde in der Ausgabe von 1931 nicht so recht klar.

In der rekonstruierten Urfassung steht es nun endlich wieder an seinem dramaturgischen Platz. Neu hinzugekommen ist auch die für die Ausgabe von 1931 ebenfalls gestrichene Fahrt von Fabian und Labude im "empörten Autobus" im nun wiederhergestellten vierten Kapitel: Vor einem fassungslosen Publikum verspotten die beiden nationale Heiligtümer wie das Brandenburger Tor, wobei Labude den schwerhörigen Touristen mimt und Fabian einen höchst eigenwilligen Reiseführer.

Der Vergleich zwischen der Ausgabe von 1931 und der Urfassung zeigt: Die vom Verlag geforderten Kürzungen und Änderungen haben die satirischen Intentionen von Kästners Roman eher verunklart. Mehr als 80 Jahre nach der Erstausgabe ist das Werk nun von seinen Entstellungen und Entschärfungen befreit. Und beeindruckt bei seiner Wiederentdeckung durch die Souveränität seiner ästhetischen Mittel wie die feinen Differenzierungen Kästners in den wörtlichen Reden der Figuren. Verblüffend ist aber auch die überraschende Aktualität des Romans: So erinnern Labudes Hoffnungen auf eine antikapitalistisch gesinnte Jugend Europas an die heutige Occupy-Bewegung.

Die von Fabian formulierten Ängste seiner Generation vor einer Familiengründung angesichts unsicherer Arbeitsverhältnisse könnten von einem Mitdreißiger unserer Tage stammen. Nicht zuletzt hat Erich Kästner mit seinem Gang vor die Hunde die viel diskutierten Thesen über den "Warencharakter" der Liebe im Kapitalismus der Soziologin Eva Illouz vorweggenommen: In der Welt seines Romans muss sich jeder, der vorwärtskommen will, prostituieren - und stets damit rechnen, von seinem Partner für einen verheißungsvolleren Ersatz stehengelassen zu werden "wie ein Schirm". (Oliver Pfohlmann, Album, DER STANDARD, 9./10.8.2014)