Steht Deutsch über allem anderen? "Das ist die Grundkrux", klagt Gero Fischer: "Über uns gibt es nichts."

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STANDARD: In der politischen Auseinandersetzung werden sie "Ausländerklassen" oder "Ghettoklassen" genannt. Jetzt befürwortet der Integrationsbeirat "Vorbereitungsklassen" für Quereinsteiger ins Bildungssystem - besser?

Fischer: Wirklich verstörend an diesen Empfehlungen ist die Behauptung, die bisherige Regelung, diese Kinder als außerordentliche Schüler zu führen, habe sich nicht bewährt. Ich kenne keinen Lehrer, der diese Einschätzung teilt. Der Vorteil dieser Praxis ist: Die Schüler ohne ausreichende oder mit fehlenden Deutschkenntnissen haben rund zwei Jahre Zeit aufzuholen, sind im Regelunterricht, können sukzessive ihre Prüfungen ablegen und erleiden keinen Zeitverlust, weil sie schon im normalen Unterricht sind.

STANDARD: Aber was spricht gegen eine kurze Trennung auf Zeit?

Fischer: Vieles ist offen: Um die erforderliche Gruppengröße für eine Klasse zu erreichen, muss man Schüler verschiedener Schulstufen einsammeln. Wie soll da unterrichtet werden? Oder sollen Kinder aus mehreren Schulen zusammengefasst werden? Und: Was wird dann in den Klassen gemacht? Deutschunterricht? Von einer Ansprechperson - und die Schüler sollen nicht voneinander lernen? Das ist nicht durchdacht. Der Integrationsbeirat hat offensichtlich das Hamburger Modell, das er empfiehlt, fehlinterpretiert. Da steht nichts von isolierten Vorbereitungsklassen, sondern es ist klar die Rede davon, dass sämtliche Förderungen im Regelunterricht stattfinden.

STANDARD: Kann ein Kind gut Deutsch lernen, ohne dass die Eltern eingebunden werden?

Fischer: Die Familie gehört natürlich mitgenommen. Wenn die Ansprüche der Schule an die Eltern aber zu hoch sind, bekommt man Probleme. Wird etwa empfohlen, die Eltern sollen ihren Kindern vorlesen, dann muss man berücksichtigen, dass viele Eltern bestenfalls in der Grundschule waren oder Lesen nicht Teil ihrer Alltagskultur ist.

STANDARD: Das betrifft nicht nur Migrantenkinder.

Fischer: Richtig. Der Unwille zu lesen, ist ein schichtspezifisches Problem. Fahren Sie nach Simmering! Bei Migrantenkindern kommen die sprachlichen Probleme noch dazu. Da bedarf es vieler Kommunikation. Aber: Es gibt kaum Pädagogen mit Migrationsbiografie, die als direkte Ansprechpartner für Eltern und Schüler fungieren könnten.

STANDARD: Warum nicht?

Fischer: Das Potenzial wurde nicht erkannt, und es ist offenbar kein angestrebtes Ziel. In Deutschland hingegen hat die Regierung mit einer Türkin auf Plakaten gezielt für den Lehrerberuf geworben. So etwas ist bei uns undenkbar. Zuwanderern die nächste Generation anzuvertrauen, diese Vorstellung fehlt in Österreich.

STANDARD: Das zeigt auch der Streit über Türkisch als Maturafach.

Fischer: Warum soll es das nicht geben? Das verstehe ich nicht. Es ist ein Politikum. Na ja, die Türkenbelagerung ist erst lumpige 300 Jahre her. Offenbar hängt uns das noch ein bisschen nach.

STANDARD: Steht Deutsch in Österreich über allem?

Fischer: Das ist die Grundkrux. Über uns gibt es nichts. In Deutschland ist diese Denkart weitgehend überwunden. Leute, die dort geboren werden, bekommen längst auch die Staatsbürgerschaft. Und bei uns? In Wien sind 20 Prozent der Bevölkerung nicht wahlberechtigt. Das ist doch ein demokratiepolitischer Wahnsinn!

STANDARD: Der Ansatz von Minister Sebastian Kurz, vor Schuleintritt sollen die Kinder Deutsch können ...

Fischer: ... ist eine Illusion. Wo sollen die die Deutschkenntnisse bitte hernehmen? Sollen die in Dagestan Deutsch lernen? Es wäre ja super, wenn die kommen und schon alles können. Herrlich! Aber so funktioniert Migration und Integration nicht.

STANDARD: Die Rechnung lautet: Deutsch können = Integration.

Fischer: Schulversuche in der Vergangenheit mit zweisprachiger Alphabetisierung in Türkisch/ Deutsch wurden nach Kampagnen der Rechten wieder gestoppt. Heute funktionieren die Fördermaßnahmen in Deutsch halbwegs. Der Muttersprachenunterricht mit drei Stunden pro Woche läuft nicht so gut, weil die Behörden nicht auf das Niveau achten. Viele Lehrkräfte, die dort unterrichten, können schlecht Deutsch und sind pädagogisch für diese Aufgaben nicht ausreichend vorbereitet. Muttersprachler zu sein genügt nicht.

STANDARD: Die Wichtigkeit des muttersprachlichen Unterrichts ...

Fischer: ... wurde von der Politik noch nicht richtig verstanden. Unter Linguisten und Sprachpädagogen ist sie Common Sense.

STANDARD: Englisch wird häufig in den Unterricht verwoben. Hat das etwas mit dem Stellenwert von Sprachen zu tun?

Fischer: Na sicher. Auf der einen Seite gibt es die sogenannten Kultursprachen, auf der anderen die Gastarbeitersprachen. Man sagt zwar nicht mehr Tschuschensprachen, meint es aber.

STANDARD: Aber ist ein bisschen Zwang vom Staat, Deutsch zu lernen, gleich prinzipiell schlecht?

Fischer: Das weiß ich nicht, ob der Zwang so funktioniert. Es ist nicht möglich, über die Pädagogik gesellschaftliche Probleme, meistens sind es soziale oder soziokulturelle, zu reparieren - das geht nicht. Würde das funktionieren, wäre das natürlich fein, weil es dann ja viel billiger wäre. Gesellschaftsreform durch Sprachreform? Das geht nicht.

STANDARD: Herumdoktern in der Bildungspolitik bleibt eine isolierte Maßnahme?

Fischer: Die Frage ist: Habe ich dazu die Mittel, ausreichend qualifiziertes Personal? Aber das habe ich nicht ...

STANDARD: ...im Herbst startet die neue Lehrerausbildung ...

Fischer: ... und wir sind dabei, erneut eine Chance zu verlieren. Mit der Umstellung auf ein Bachelor- und Mastersystem wird bei vielen Studien die Fachausbildung schlechter. Bisher hat das Studium viereinhalb bis fünf Jahre gedauert. In dieser Zeit war es auch möglich, ein, zwei Semester ins Ausland zu gehen - ein Muss beim Sprachstudium. Beim verschulten Bachelorstudium geht sich das nicht aus. Fachlich werden die neuen Lehrer auch im Stich gelassen. Migrations- und Integrationspädagogik ist kein Bestandteil der Lehrerausbildung. Das Problem ist: Die Schulpolitik hat abgedankt, es gibt keine Ideen mehr. (Peter Mayr, Karin Riss, DER STANDARD, 8.8.2014)