Anders als viele andere Künstler wählte Duncan Campbell keine eigene Arbeit aus, sondern "Incident" (1993) von Willie Doherty. Ihn faszinierten die Spuren vertrauter Narrative.

Foto: Irish Museum of Modern Art, Dublin

Salzburg - Der Bildausschnitt ist suboptimal: Ein weißer Haarschopf ragt in den unteren Rand der Aufnahme. Dahinter ist ein Raum zu erkennen, eine Türöffnung, neben einem gut gefüllten Bücherregal hängen Objekte an der Wand. Auch ein wirklicher Fokus ist nicht zu erkennen; obendrein ist das Foto irgendwie unscharf, verpixelt. Und doch ist es ein Bild, das besonders erscheint, das fasziniert - zumindest für die Person, die es ausgewählt hat.

Der französische Philosoph Roland Barthes (1915-1980) war es in diesem Fall nicht. Aber in seinem letzten, 1980 posthum erschienen Buch Die helle Kammer, einer Abhandlung zur Fotografie, begibt er sich auf die Suche nach dem Wesen des Mediums, obwohl er gar nicht daran glaubt, dass es so ein allgemeingültiges Wesen der Fotografie überhaupt gibt. Stattdessen könne man immer nur von einer Fotografie sprechen, schreibt er. Entscheidend sei der persönliche Zugang. Und so macht Barthes - der sich bezichtigt, "nicht einmal ein Amateurfotograf" zu sein - sich selbst zum Maß dessen, was ein Foto herausragend macht.

Zwei Merkmale bestimmen laut Barthes die Fotografie: das "studium" und das "punctum". Während Ersteres mehr oder weniger das auf eigenem Wissen aufbauende Abgrasen aller Informationsträger im Bild meint, auch das Aufspüren der Absichten des Fotografen, ist Zweiteres - das "punctum" - ein das (subjektive!) Auge förmlich anspringendes Detail. Barthes sagt: "Das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren."

Nach diesem Stich, dem kleinen Loch, Fleck oder auch Schnitt im Foto, der laut Barthes "zu bestechen" und "zu verwunden" vermag, sucht auch Punctum, die Ausstellung im Salzburger Kunstverein. Und dem Erfinder des Begriffs entsprechend versucht man erst gar nicht, hier eine singuläre Perspektive auf das Medium zu werfen. Vielmehr hat man sich für subjektive Zugänge von 50 Kuratoren und Künstlern entschieden.

Dazu zählt eben auch die Silberfrisur ohne Gesicht, das unspektakuläre, nach objektiven Kriterien verhunzte Foto, das der Künstler Felix Gmelin ausgesucht hat. "Das ist meine Mutter", schreibt er. "Sie ist 84 Jahre alt. Dieses Bild entstammt einer Skype-Unterhaltung, die wir am 27. April führten." Gmelin erzählt von den Bildern im Hintergrund, die seine Urgroßmutter zeigen, eine Ärztin, der es als Halbjüdin nicht gestattet war zu praktizieren. Das "punctum" ist für den Künstler jedoch das Haar seiner Mutter, das ihn mit dem Gedanken erfüllt, es könne das letzte Bild sein, das er von ihr erhaschen kann. Mit diesem Wissen kann so ein "punctum" auch ansteckend wirken, andere Betrachter berühren.

Im Übrigen waren auch Barthes' Überlegungen zur Fotografie vom Tod seiner Mutter überschattet. Beim Betrachten ihrer Fotos konnte er sie lange in keiner der Aufnahmen wiederfinden. Erst in einem Kinderbild erkannte er die gesuchte "Wahrheit des Gesichts".

Solche Momente muss man sich in der Salzburger Schau allerdings erst erarbeiten, denn viele Fotos erschließen sich nur durch ihre Kontexte. Wenige wirken, wie etwa Gauri Gills Beispiel, über die ikonische Kraft von Motiv und Inszenierung: Es zeigt einen Jungen vor einer erbärmlichen Siedlung; über den Kopf hat er ein Plastiksackerl gezogen. Oder das wie gemalt wirkende Foto Willie Dohertys von einer ausgebrannten Karre am Straßenrand, ein morbides Idyll.

Die Bedeutung der Fotografie, das zeigt Séamus Kealy mit der von ihm initiierten Schau, liegt inzwischen fern von Ästhetik und dokumentarischen Ikonen. Ihre Funktionen sind heute so vielseitig wie die Zahl der über Instagram verbreiteten Fotos. Ein wahrer Ansatz, der in einer nach Orientierung und Eindeutigkeit dürstenden Zeit, aber auch ohnmächtig machen kann. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 7.8.2014)