Generation X: Kulturminister Josef Ostermayer und Paulus Hochgatterer, der Schriftsteller, der auch Kinderpsychiater ist - oder umgekehrt, erinnern sich an ein besonderes Buch. Es war rot.

Foto: Regine Hendrich

"Ich fühle mich extrem privilegiert, dass mein Chef auch mein Freund ist", sagt Josef Ostermayer. Der Chef ist Kanzler und heißt Werner Faymann.

Foto: Regine Hendrich

"Das Orchester im großen Saal und das Kind mit seinem Bleistift sind kein Entweder-oder", sagt Paulus Hochgatterer. Die Frage in der Kulturpolitik sei: "Gibt man beiden das, was sie brauchen?"

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Sie sind beide 1961 geboren. Das war der erste Jahrgang, der zur „Generation X“ (Geburtsjahrgänge bis 1981) gezählt wird. Welches historische Ereignis hat Sie politisch sozialisiert?

Ostermayer: Das, woran ich mich erinnere als politische Aktion, war, wie ich in der zweiten Klasse Gymnasium Gratisschulbücher – eine der ersten Aktionen von Kreisky – bekommen habe, wie wir mit Gutscheinen in die Buchhandlung gegangen sind und dort wahnsinnig viele Bücher gestapelt waren. Der Geruch der frischen Bücher, die man ausgehändigt bekommen hat und mit denen im Bus nach Hause gefahren ist, ist eine der ganz positiven schönen Erinnerungen.

Hochgatterer: Ich kann mich an diesen Moment gut erinnern! Auch ich bin in einer 2000-Einwohner-Gemeinde aufgewachsen, und wir sind dann mit diesen Büchergutscheinen nach Amstetten in die Buchhandlung Reisinger gefahren, und ich habe, das war für mich das Wichtigste, einen riesengroßen, wunderschönen Atlas gekriegt.

Ostermayer: Rotes Leinen?

Hochgatterer: Ja, genau! Ich hatte von klein auf eine hohe Landkartenaffinität. Ein eigener Atlas, das war sensationell. Und erst ein ganzer Stapel komplett neuer Bücher! Ich bin parallel dazu ja als Stadtbüchereibesucher sozialisiert und habe in meiner Kindheit nicht so viele eigene Bücher gehabt. Das war zu teuer. Und plötzlich hatte man einen Stapel eigene Bücher. Aber wenn ich mir grundsätzlich die Frage stelle, wo das Politische für mich begonnen hat, dann komme ich auf ein paar Kindheitseindrücke. Erstens hat mein Vater, der Lehrer und immer ein politischer Mensch war, zu Hause immer von den Roten und den Schwarzen geredet, und ich habe als kleiner Bub versucht, mir vorzustellen, wer das denn sei, die Roten und die Schwarzen. Irgendwann, ich war vielleicht vier Jahre alt, habe ich in mir das Bild entwickelt, die sind so was wie die Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren. Da gibt es Rote und Schwarze, mein Vater – Niederösterreich, katholisch – gehört zu den Schwarzen, und die führen Krieg mit den Roten. Das war das erste kindliche politische Bild in meinem Leben. Was mir außerdem sehr in Erinnerung ist, ist die Glatze von Josef Klaus, auch aus einem Identifikationsaspekt heraus – mein Vater hatte eine Glatze (lacht). Das Dritte waren die Plakate zur Nationalratswahl 1970. Da gibt es in meiner Erinnerung ein rotes Plakat mit einem 70er drin, ein SPÖ-Plakat, das hab ich Neunjähriger grafisch irrsinnig modern gefunden.

STANDARD: Herr Minister, Sie sind in einer Familie aufgewachsen, „wo es immer auch Bücher gab“. Welche Rolle spielten diese für Sie?

Ostermayer: Es gab natürlich die Literatur, die wir als Kinder wahrscheinlich alle gelesen haben, von „Hatschibratschi Luftballon“ bis zu „Die Omama im Apfelbaum“ etc. Und vor Weihnachten gab es in der Volksschule immer einen Büchertisch, wo man sich ein Buch aussuchen durfte, das man dann als Weihnachtsgeschenk gekriegt hat. Und meine Eltern waren Mitglied in der Büchergilde Gutenberg, wo man im Quartal ein Buch bestellen musste. Ab dann habe ich immer sehr intensiv gelesen. Ich war auch der Einzige, der mündlich in Deutsch maturierte. Ich bin mit dem Radl die zwölf Kilometer von Schattendorf nach Mattersburg gefahren zum zweistündigen Privatissimum mit meinem Deutschlehrer. Das Maturathema war dann „Der Prozess“ von Kafka.

STANDARD: Über Sie, Herr Hochgatterer, sagte Ihre Mutter: „Der liest keine Bücher, der frisst sie.“ Warum brauchen Kinder Bücher?

Hochgatterer: Das mit dem Fressen ist zutreffend, und im metaphorischen Sinn kann ich das auch fortführen. Bücher waren für mich Nahrung. Kinder haben das vitale Bedürfnis, Phantasmen zu entwickeln, innere Geschichten sich zu erzählen oder erzählt zu bekommen. Dieses Bedürfnis habe ich durch exzessive Lektüre zufriedengestellt.

Ostermayer: Noch immer?

Hochgatterer: Ja, noch immer. Ich weiß, das ist Leiden auf hohem Niveau, aber ich leide heute sehr darunter, dass ich nicht so viel lesen kann, wie ich gern möchte, weil ich einfach die Zeit nicht habe.

Ostermayer: Verstehe ich. Ich lese jeden Tag. Auch wenn ich um Mitternacht nach Hause komme, lese ich mindestens eine halbe Stunde.

STANDARD: Bleiben wir bei Geschichten und Geschichte. Herr Ostermayer, die Geschichte Ihres Heimatorts findet sich in der „großen“ offiziellen Geschichte Österreichs. Da sind in Ihrer Familie das Private und das Politische buchstäblich zusammengefallen: Der Bruder Ihrer Großmutter war jenes achtjährige Kind, das – neben einem 40-jährigen Mann – beim Rückmarsch nach einer Kundgebung des Republikanischen Schutzbundes der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1927 von rechten Frontkämpfern erschossen wurde. Die Täter wurden freigesprochen, eine erzürnte Menge setzte den Justizpalast in Brand. „Meine Großmutter hat sich immer geweigert, darüber zu reden“, sagten Sie einmal. Ein einziges Mal, Mitte der 1980er-Jahre, hat sie mit Ihnen darüber geredet, eine Stunde. Hat Ihnen die gereicht?

Ostermayer: Nein, ich hätte natürlich gern ausführlicher mit ihr gesprochen. Sie war ja damals 14 und hatte die Aufgabe, den Arzt zu holen, und als der dann gekommen ist, war der Bruder tot. Mich hätten auch die Umstände interessiert, wie war's davor, wie ist es aus ihrer Sicht überhaupt zu dieser Entwicklung und Radikalisierung gekommen? Man kennt ja die offizielle Version, aber wie war das im persönlichen Erleben? Sie hat sich immer geweigert. Sie ist auch nicht in die Kirche gegangen, wenn sie das Gefühl hatte, das könnte ein Thema werden, bei Firmungen etwa ist das ab und zu vom Bischof angesprochen worden. Man muss sich vorstellen, sie und die drei Männer, die damals angeklagt waren, haben ja im Dorf gelebt. Auch ich habe alle drei noch persönlich kennengelernt.

STANDARD: Wie kam es zu diesem einen Gespräch darüber?

Ostermayer: Der „Trick“ war ein Buch, das damals erschienen ist. Ich habe zu ihr gesagt: Stimmt das, wie der das beschreibt? Und dann hat sie gesagt: Na, was schreibt denn der? Ich habe ihr vorgelesen, und sie hat erzählt, wie das aus ihrer Sicht war. Es war schön und berührend, aber halt nur ein einziges Mal. Sie hat das Thema ja nie überwunden.

Hochgatterer: Das würde mich schon interessieren: Wie ist Ihre Großmutter mit der ständigen Präsenz der Täter umgegangen? Das muss ja eine unglaublich schwierige Situation gewesen sein.

Ostermayer: Ausweichend. Mein Vater, aber auch wir Enkelkinder hatten ja Kontakt mit diesen Personen, mit deren Angehörigen, Kindern und Enkelkindern. Die Großmutter ist ausgewichen, soweit es halt im Dorf möglich war.

STANDARD: Herr Hochgatterer, Sie sind Kinderpsychiater, wie wichtig ist es für Familien, über solche Traumata und Zäsuren zu reden?

Hochgatterer: Meines Erachtens ist das extrem wichtig. In der Familie meiner Mutter, gab es ein Ereignis, das zwar eine geringere politische Dimension hat, aber trotzdem für alle ein ungeheurer Einschnitt war. Meine Mutter, die von einem Mostviertler Bauernhof kommt, hatte acht Geschwister, sieben Schwestern und einen Bruder, und es ist das passiert, was damals in vielen Familien passierte: Der eine Bruder, der das Haus übernehmen und Bauer werden sollte, wurde 1944 mit den allerletzten Buben an die Front geschickt, und dort hat man ihm den Kopf weggeschossen. Darüber kann meine Mutter immer noch ganz schlecht sprechen. Was sie erzählt hat, und das hat mich als Kind sehr beeindruckt, war die Szene, wie die Nachricht von der Wehrmacht kam und ihr Vater, mein Großvater, mitgeteilt bekam, was passiert ist. Meine Mutter hat immer gesagt, das war der einzige Moment, wo sie ihren Vater schreien gehört habe. In Kenntnis meines Großvaters, den ich als distanzierten, wortkargen Mostviertler Bauern kennengelernt habe, habe ich mir das als Kind vorstellen können und ein Stück verstanden, was damals passiert ist.

Ostermayer: Schreien, indem er den Schmerz herausschreit?

Hochgatterer: Ja.

STANDARD: Herr Hochgatterer schrieb einmal: „Ich tue das, von dem wir uns einig sind, dass es hier und heute das Wichtigste ist: Ich erzähle eine Geschichte.“ Als „Storytelling“ ist das auch in der Politik ein wichtiger Faktor. Obama gilt als Meister des Storytelling. Welche Geschichten sehen Sie in der österreichischen Politik beziehungsweise welche möchten Sie als Politiker gern erzählen?

Ostermayer: Man kann in unserer Medienwelt nicht steuern, was über einen erzählt wird, und bekommt relativ rasch bestimmte Stempel aufgedrückt. Aufgrund meiner beruflichen Biografie ist einer meiner Stempel, dass ich an der Seite des Bundeskanzlers bin. Etwas, das so ist, weil wir uns bereits 1987 in der Mietervereinigung kennengelernt haben. Heute habe ich das Privileg, dass ich in einer Arbeitssituation bin, wo mein Chef auch mein Freund ist. Eine andere Zuschreibung ist, dass ich sehr ausdauernd bin und ab und zu Brücken bauen kann, auch bei schwierigen Themen. In der Ortstafelthematik hat meine biografische Geschichte eine Rolle gespielt, weil auch dort Traumatisierung beider Gruppen ein Thema war. Der eine hat gesagt, meine Vorfahren seien von den Tito-Partisanen verschleppt worden, und der andere erzählte, meine Schwester sei von den Nazis umgebracht worden. Beides stimmt. Mir wurde die Frage gestellt, warum ich glaube, dass ich diese Traumatisierung verstehe. Und ich habe meine persönliche Geschichte erzählt, und dann wurde akzeptiert, dass ich Verständnis habe. Ich selbst, glaube ich, bin ja nicht der begnadete Storyteller und Selbstverkäufer. Meine Aufgabe war eigentlich immer, in vertraulichen Situationen Lösungen für Konflikte herbeizuführen.

STANDARD: Welches Geschichtenangebot sehen Sie in der Politik?

Hochgatterer: Das ist schon ziemlich bunt (lacht). Da muss man differenzieren: die Erzählungen oder Narrative, die man miterlebt oder die einem aus den Medien als Erzählung vermittelt werden, und die Geschichten, die Politiker selbst erzählen. Da möchte ich Ihnen übrigens widersprechen: Ich glaube, Sie sind ein guter Geschichtenerzähler, weil Sie den Kontakt zu sich selber offenbar nicht verloren haben, den Kontakt zu den wichtigen Fragen. Woher komme ich? Was ist mir weltanschaulich wichtig? Welche Personen sind mir wichtig? Natürlich könnte man jetzt auch bösartig vermuten, Sie sind ein so perfekter und abgefeimter Geschichtenerzähler, dass das alles so wirkt, aber das glaub ich einfach nicht (lacht). Manchmal hat man das Glück, und es ergeben sich im Leben keine Konstellationen, die es notwendig machen würden, sich zu verstellen. Andere tun das ja. Da kommt einem manchmal ja nur mehr eine Puppe entgegen. Vor ein paar Jahren hat man noch gesagt: der NLP-geschulte Roboter.

derstandard.at/von usslar

STANDARD: Eine Geschichte über Sie, Herr Minister, lautet: Das ist eigentlich der mächtigste Mann in der Regierung. Obwohl Sie nicht der Kanzler sind. Zugleich sagen Sie von sich, kein Machtmensch zu sein. Warum?

Ostermayer: Mir ist ziemlich bewusst, welches Glück ich im Leben hatte. Das hat begonnen mit meinen Eltern, meiner Kindheit, mit den Menschen, die ich dann kennengelernt habe, meiner Frau, meinen Kinder und auch dem jetzigen Bundeskanzler. Mir ist also auch bewusst: Was ich jetzt mache, ist eine temporäre Aufgabe, und ich versuche sie, so gut ich es kann, zu erfüllen. Natürlich ist das auch eine Machtsituation und -position. Das ist mir auch vollkommen bewusst, und das kann manchmal ganz unangenehm sein. So war die politisch unangenehmste Situation meines Lebens, die Entscheidung treffen zu müssen, den Burgtheaterdirektor abzuberufen. Ich selbst habe nur ein einziges Mal in meinem Leben wirklich ganz konkret einen Job angestrebt. Ich habe mich nach Studium und Zivildienst in der Mietervereinigung beworben, weil mich das als Jurist interessiert hat, und ich bin dort zum Glück genommen worden. Der Rest ist eigentlich immer passiert. Dass ich jetzt hier sitze oder davor Staatssekretär war, hat damit zu tun, dass mich der Bundeskanzler gefragt hat, ob ich das machen möchte.

Hochgatterer: Darf ich eine Frage zu dieser Beziehung stellen, weil das etwas ist, das ich ganz anders erlebe. Für mich waren oder sind nach wie vor Beziehungen, die Freundschaft und ein hierarchisches berufliches Verhältnis verbinden, ganz schwierig. Oder pointiert formuliert: Ich bin mit meinem ehemaligen Chef erst befreundet, seit er nicht mehr mein Chef ist. Und umgekehrt: Chef von jemandem zu sein, mit dem ich in einem engeren Sinn befreundet bin – und so scheint es bei Ihnen ja zu sein –, bringt mich immer wieder in schwierige Situationen. Unangenehme Dinge anordnen zu müssen, den Unmut von Mitarbeitern abzukriegen, damit muss man zurechtkommen, das ist völlig klar, aber in einem beruflichen Kontext den Unmut von Freunden abzukriegen, das empfinde ich immer als besonders schwierig. Wie funktioniert das?

Ostermayer: Ich habe jetzt nachgedacht, ob mir eine Situation einfällt, wo es kompliziert geworden wäre, und es fällt mir – jetzt sagen Sie vielleicht, ich verdränge alles Negative (lachen) – wirklich nichts ein, wo wir in dieser Konstellation ein Problem miteinander gehabt hätten. Hat aber vielleicht auch damit zu tun, dass er der analytische Mensch ist und ich der, der die Fakten sammelt und versucht, eine Lösung zu finden. Ich brauche immer möglichst viele Fakten, damit ich auch entsprechend verhandeln kann. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum’s funktioniert.

Hochgatterer: Sehr pointiert gefragt, und die Frage stellt sich auch und gerade in Spitzenpositionen: Wenn’s darum geht, wer räumt die Scheiße weg, Sie verstehen, was ich meine, wenn es um wirklich unangenehme Dinge geht – wie wird das zwischen Ihnen beiden entschieden?

Ostermayer: Indem wir miteinander das Problem erörtern und versuchen, gemeinsam eine Entscheidung zu treffen. Aber die Letztentscheidung – weil auch Letztverantwortung – hat er.

Hochgatterer: Freundschaft ist für mich, um ein Bild zu gebrauchen, ein Behältnis, in dem auch und gerade viele unangenehme Dinge Platz haben. Überforderung, Zorn, Verzweiflung, Davonrennenwollen: Kommt das vor in Ihrer Freundschaft mit dem Kanzler?

Ostermayer: Nein. Es gibt natürlich täglich Situationen, in denen man sich ärgert über irgendeinen Mist, aber ich habe einen relativ guten Mechanismus, um mit solchen Dingen umzugehen.

STANDARD: Wären Sie politiktauglich? Es gibt ja immer wieder auch Quereinsteiger in Ministerämtern.

Hochgatterer: Ich bin natürlich ein verführbarer Mensch, und ich bin auch nicht unnarzisstisch, aber ich glaube, ich weiß inzwischen, was ich kann, und vor allem, was ich aushalte und was nicht. Der Aspekt, gestalten zu können, vor allem im Kultur-, auch im Gesundheitsbereich, wäre schon verführerisch, aber was ich nicht aushalten würde, ist die vielfältige und teilweise bösartige Einflussnahme von verschiedenen Seiten. Und so wie Sie die Beziehung zum Kanzler schildern, verstehe ich ihn schon auch als jemanden, von dem Sie sich geschützt fühlen gegen die Ungeheuer, die da zwangsläufig um einen kreisen, wenn man Spitzenpolitiker ist, und nur darauf warten, dass man irgendwo einen kleinen Fehler macht. Die Horde gibt’s ja, die kennen wir, und ich denke da nicht nur an die Poster im Internet.

Ostermayer: Wobei man ehrlicherweise sagen muss, und es ist auch immer wieder gut, zu konstatieren: Wir sind auch diesbezüglich im Vergleich zu anderen Ländern nach wie vor in einer seligen Situation. Es ist möglich, dass der Bundeskanzler ganz normal durch die Stadt geht, ich fahre U-Bahn, das gibt es in vielen anderen Ländern nicht. Natürlich hat man eine gewisse Beschneidung an Privatheit, aber auch da braucht man kein Mitleid haben, wir sind noch immer ein seliges Land.

Hochgatterer: Apropos seliges Land: Sven-Eric Bechtolf, Schauspielchef der Salzburger Festspiele, hat im STANDARD-Interview gesagt: „Die Bereitschaft zur ökonomischen Unvernunft ist die eigentliche Kulturleistung einer Gesellschaft.“ Das hat, und das verstehe ich sehr gut, den Schauspieler und Regisseur Hubsi Kramar unglaublich empört und zu einem für mich sehr nachvollziehbaren Gastkommentar veranlasst, in dem er in Kürzestfassung sagt: So spricht nur ein Herrenkünstler, der das hat, was die meisten anderen nicht haben, nämlich die Mittel, die ihm erlauben, ökonomisch unvernünftig zu sein.

Ostermayer: Ich bin nicht berufen, Bechtolf zu interpretieren, aber ich weiß, wie konsequent er darauf achtet, dass ja keine Probleme bei den Salzburger Festspielen auftreten, nämlich ökonomischer Art, wie das im Burgtheater war ...

Hochgatterer: Ich möchte es bitte nicht personalisiert behandeln. Ich habe überhaupt nichts gegen Bechtolf, ganz im Gegenteil.

Ostermayer: Auch im Bereich von Kultureinrichtungen ist die Notwendigkeit gegeben, dass man sich ökonomisch korrekt verhält usw. Man kann es auch anders interpretieren: Wenn man es unter dem Aspekt einer Gesellschaft sieht, in der es ausschließlich um Utilitarismus, um Nützlichkeit geht, ausschließlich um die Frage rein ökonomischer Erwägungen, dann verstehe ich Sven-Eric Bechtolf sehr gut, und dann bin ich sehr froh, dass wir uns auch in der jetzigen Situation entschlossen haben, beim Budget im Bereich Kunst und Kultur nicht zu kürzen. Dass wir in dem Bereich einen großen Haufen an Aufgaben haben, um das Schiff wieder korrekt auf Kurs zu bringen, ist auch klar. Aber es ist nicht sinnvoll, eine Institution gegen die andere auszuspielen. Das nützt ausschließlich jenen, die den Bereich generell reduzieren wollen.

Hochgatterer: Ich bin ja der Überzeugung, dass die Kunst neben der Liebe und vielleicht dem Rausch die dritte Möglichkeit ist, mit dem Leben und seiner Unerträglichkeit zurechtzukommen. Und gerade daher glaube ich, es ist, um ein Bild aus meinem Beruf zu gebrauchen, wichtig, dass man einem Kind, das zeichnen will, einen Stift gibt, und dass man einem Kind, das Musik machen will, ein Instrument zur Verfügung stellt. Und nicht erst, dass man einem Orchester, das eh schon aus lauter Könnern besteht, einen großen Saal bereitstellt.

Ostermayer: Aber wir haben den großen Saal, und die Idee, den großen Saal gegen den Bleistift zu tauschen, das geht sich nicht aus ...

Hochgatterer: Das sag ich auch nicht.

Ostermayer: Der Saal besteht, und die Erbschaft, die wir aus der Vergangenheit übernommen haben, kann auch eine Bürde sein, aber ich sage: Seien wir doch glücklich, in einem Land zu leben, wo es das gibt.

Hochgatterer: Das bin ich auch.

Ostermayer: Und das mit dem Rausch und der Unerträglichkeit des Lebens: Ich finde das Leben ja gar nicht unerträglich, ganz im Gegenteil. Ich habe mich einmal auf einer Glücksskala von eins bis zehn sehr weit oben eingereiht. Insofern spar ich mir den Rausch offenbar (lachen).

Hochgatterer: Zugegeben, sich den Rausch zu sparen ist in der Regel löblich. Ich habe die Sache mit der Unerträglichkeit des Lebens aber weniger psychologisch als existenzialphilosophisch gemeint. Dass das Leben Leid und Elend mit sich bringt und mit dem Tod endet, daran kommen wir alle nicht vorbei.

Ostermayer: Aber wir haben die Chance, immer zu überlegen, wie können wir das Elend reduzieren. Ich bin eher der Mensch, der sich ein Ziel setzt, und wenn er es nicht erreicht, sich nicht gleich als gescheitert erachtet, sondern das als Ansporn sieht weiterzukämpfen.

Hochgatterer: Das Orchester im großen Saal und das Kind mit dem Blatt Papier sind für mich kein Entweder-oder. Es geht um die Frage: Was gibt man beiden? Oder: Gibt man beiden das, was sie brauchen?

Ostermayer: Darum investieren wir ja nicht 440 Millionen Euro in den großen Saal, sondern nur einen Teil davon, und den anderen in verschiedenste kleinere Aktivitäten wie zum Beispiel die Verlagsförderung.

Hochgatterer: Jetzt bin ich natürlich entwaffnet (lacht).

Ostermayer: Das war mein Ziel (lacht). (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 9.8.2014)