Kiew/Moskau/Luhansk - Russland hat die Zahl seiner Soldaten an der Grenze zur Ukraine fast verdoppelt, berichtete die "New York Times" am Dienstag unter Berufung auf westliche Regierungsvertreter. Russische Einheiten könnten somit mit wenig Vorwarnung grenzüberschreitend aktiv werden, hieß es weiter.

Den Angaben zufolge hat Russland in den vergangenen Wochen bis zu 17 Bataillone - schätzungsweise zwischen 19.000 und 21.000 Soldaten - im grenznahen Gebiet zusammengezogen. Das Blatt sprach wörtlich von einer "gefechtsbereiten Streitmacht" inklusive Infanterie, Artillerie und Luftabwehr.

Entschlossene NATO

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen unterstrich die Geschlossenheit des westlichen Verteidigungsbündnisses. "Die NATO ist entschlossen, alle Verbündeten gegen jederlei Bedrohung zu verteidigen", sagte Rasmussen am Montag im militärischen Hauptquartier der NATO im belgischen Mons.

"Der kriminelle Abschuss von Flug MH17 hat deutlich gemacht, dass ein Konflikt in einem Teil der Welt tragische Konsequenzen überall in der Welt haben kann", sagte Rasmussen. Zusammen mit dem britischen Premier David Cameron hatte er zuvor den NATO-Oberbefehlshaber, den US-General Philip Breedlove, getroffen.

Zuvor hatte Russland auch ein bis 8. August dauerndes Großmanöver der Luftwaffe mit Kampfjets und Hubschraubern im Westen des Landes gestartet. Erstmals finde ein solches Manöver gleich in drei Wehrbezirken statt. Auch in NATO-Staaten hatte es im Zuge der Ukraine-Krise Manöver gegeben.

Die deutsche Bundesregierung forderte erneut "ganz klare Schritte zur Deeskalation" von Russland. "Wir beobachten das, was an der russisch-ukrainischen Grenze passiert, sehr genau", sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes in Berlin.

Fahnenflucht oder Ausweichen

Die Separatisten in der Ukraine warfen der Armee vor, eine Waffenruhe am Absturzort des malaysischen Passagierflugzeugs nicht einzuhalten. Wegen Granateneinschlags hätten 124 internationale Experten die Untersuchung des Trümmerfelds bei Grabowo abbrechen müssen, teilten die prorussischen Aufständischen mit. Die Rettungskräfte suchen nach Opfern sowie persönlichen Gegenständen der 298 Opfer.

Die Helfer gehen von mehrwöchigen Arbeiten aus. Bisher sei erst eine von fünf Zonen im Gebiet abgesucht worden, sagte ein Sprecher. Die Boeing 777-200 war am 17. Juli vermutlich abgeschossen worden. Armee und Aufständische geben sich gegenseitig die Schuld. Von der ostukrainischen Stadt Charkow aus brachte am Montag eine weitere Maschine Opfer von Flug MH17 in die Niederlande.

Bei schweren Gefechten mit Separatisten gelangten hunderte ukrainische Soldaten auf russisches Gebiet. Die Führung in Kiew sprach von einem "taktischen Manöver", russische Behörden von Fahnenflucht. Ein Großteil der 438 Soldaten wolle vorerst in Russland bleiben, sagte Wassili Malajew vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB, der für den Grenzschutz zuständig ist. Dies wies die Ukraine mit Nachdruck zurück. Die Einheit sei nur ausgewichen, sagte Sprecher Alexej Dmitraschkowski.

In den ostukrainischen Gebieten Luhansk und Donezk dauerten die Gefechte der Regierungskräfte mit militanten Gruppen unvermindert an. In Luhansk seien durch Artilleriebeschuss die Wasser- und Stromversorgung sowie das Telefonnetz zusammengebrochen, teilte die Verwaltung der Großstadt mit. Große Versorgungsprobleme gab es auch in der 150 Kilometer südwestlich gelegenen Großstadt Donezk.

Fluchtkorridore

Regierungstruppen legten in der Kampfzone Fluchtkorridore für Zivilisten an. Das Feuer werde dort täglich für mehrere Stunden eingestellt, sagte ein Militärsprecher. Der Sicherheitsrat in Kiew rief die Zivilisten in der Ostukraine auf, die von "Terroristen" besetzen Gebiete schnell zu verlassen. Beobachter sahen darin die mögliche Vorbereitung einer Bombardierung.

Wegen zunehmender Gefechte verließen mehrere OSZE-Beobachter den russischen Kontrollposten Gukowo an der Grenze zur Ukraine. Die Lage sei für die Mitarbeiter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu gefährlich geworden, sagte der Grenzschützer Malajew. Er warf der ukrainischen Armee vor, erneut das russische Grenzgebiet beschossen zu haben. Dabei sei mindestens ein Wohnhaus schwer beschädigt worden. Russland kritisiert seit Wochen scharf den Beschuss von ukrainischem Territorium aus.

Den prorussischen Kräften zufolge starben seit Beginn des "Anti-Terror-Einsatzes" der Armee Mitte April etwa 1.500 Zivilisten. In den Gebieten Luhansk und Donezk seien 60 Prozent der Infrastruktur zerstört, sagte Separatistenführer Andrej Rodkin. In den vergangenen Monaten hatten die Konfliktparteien in der krisengeschüttelten Ex-Sowjetrepublik wiederholt unterschiedliche Opferzahlen genannt. (APA, 5.8.2014)