Der Franzose Jean-Pierre Jeunet versucht in seinem Film "Die Karte meiner Träume" auch ein wenig, an die eigene Kindheit anzuschließen.

Foto: Filmladen

T.S. Spivet (Kyle Catlett) und seine Mutter (Helena Bonham Carter).

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Wien - Der zehnjährige T. S. Spivet (Kyle Catlett) lebt mit seiner Familie auf einer Ranch in Montana und ist ein hochbegabter Erfinder: Als er eines Tages den Plan für ein funktionierendes Perpetuum mobile an das berühmte Smithsonian Institute in Washington schickt, wird er von dessen Leiterin (Judy Davis) in die Hauptstadt eingeladen. Dass es sich bei Spivet um einen Buben handelt, ist der Wissenschafterin am Telefon entgangen, weshalb die Überraschung vor Ort umso größer ist. Sofort soll der neue Star entsprechend vermarktet werden. Doch auf seiner langen Reise als blinder Passagier quer durch Amerika hat sich Spivet gewandelt - und der helle Kopf kann bei der wichtigsten Rede seines Lebens endlich sein Herz ausschütten.

Mit Die Karte meiner Träume (The Selected Works of T.S. Spivet) hat Jean-Pierre Jeunet (Die fabelhafte Welt der Amélie) einen Roman des US-Autors Reif Larsen verfilmt und sich damit selbst einen Kindheitstraum erfüllt: Sein in satte Farben getauchtes 3-D-Roadmovie gerät zur Reise durch ein aus der Zeit gefallenes, von verschrobenen Charakteren bevölkertes Amerika. Eine fantastische Filmerzählung, bei der jede Einstellung aussieht wie eine aus einem Bilderbuch gefallene Seite.

STANDARD: Gibt es im Leben eigentlich ein richtiges Alter, um seine Träume wahr werden zu lassen?

Jeunet: Ich war bereits als kleiner Bub darauf versessen, mit Dingen zu experimentieren. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Als erwachsener Mann ist es natürlich schwieriger, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen, aber im Grunde bin ich noch immer derselbe. Ich denke, um seine Träume zu verwirklichen, gibt es kein richtiges Alter - aber der Zeitpunkt ist immer der richtige.

STANDARD: Man hat den Eindruck, dass Sie sich bei Ihrer Arbeit an "Die Karte meiner Träume" Ihrer eigenen Kindheit besonders verbunden gefühlt haben.

Jeunet: Selbstverständlich, ich identifiziere mich sogar mit Spivet. Er erinnert mich an vieles aus meiner eigenen Kindheit. Außerdem ist es ein Privileg, seine Kindheit ins Erwachsenenleben mitnehmen zu können.

STANDARD: Woher nehmen Sie die Inspiration für Ihre visuell bemerkenswerten Filme wie "Die fabelhafte Welt der Amélie"?

Jeunet: Das können durchaus Einflüsse sein, Dinge, die man mag, und Filme, die man gerne sieht. Das kann eine Slapstick-Comedy ebenso sein wie ein Pixar-Animationsfilm. Bei Die Karte meiner Träume ist die Referenz natürlich Reif Larsens Roman. Erstaunlich war in diesem Fall die Verbundenheit, die wir beide zur Arbeit des jeweils anderen spürten.

STANDARD: Zu Beginn des Films erklärt ein Student seinem Professor, dass der Schlüssel für ein Perpetuum mobile nur etwas für Idealisten und Poeten sei. Entspricht dieses Bild auch Ihrer Vorstellung vom Filmemachen? Sind Sie idealistisch?

Jeunet: Nein. Aber es eine interessante Frage über das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst und damit ein wesentliches Thema dieses Films. Denn die Arbeit an einem Film ist für mich eine Komposition von beidem, es geht für mich darum, das richtige Verhältnis zu finden. Wenn ich schreibe, ist das Kino für mich Dichtung; wenn ich drehe, ist es für mich Technik. Das ist für mich eine Definition von Kino: Es ist Technik und Dichtung zugleich.

STANDARD: Wenn Spivet sich selbst mit Leonardo da Vinci vergleicht, wirkt das erstaunlicherweise in keiner Weise arrogant. Man hat den Eindruck, dass ein wahres Genie tatsächlich Wissenschaft und Kunst in sich vereinen sollte.

Jeunet: Absolut. Da Vinci ist dafür ein gutes Beispiel. Wenn er heute leben würde, er würde wahrscheinlich Filme drehen.

STANDARD: Sie haben mit "Die Karte meiner Träume" einen auf den ersten Blick typisch amerikanischen Film inszeniert, ein Roadmovie mit prägenden Begegnungen für den kleinen Helden. Sie haben dafür aber keinen Fuß auf US-Boden gesetzt.

Jeunet: Um mir das Recht auf den Final Cut zu sichern, habe ich den Film als französisch-kanadische Koproduktion geplant. Wir haben also in Kanada gedreht, und ich habe tatsächlich ein einziges Mal die USA betreten - mit einem Fuß bei der Suche nach einer geeigneten Location. In Wahrheit ist es ein französischer Film, der als amerikanischer daherkommt.

STANDARD: Inwieweit hat Reif Larsens buchstäblich fantastische Vorlage die Entscheidung bestimmt, den Film in 3-D zu drehen?

Jeunet: Das stand für mich von Beginn an fest. Ich denke, alle meine Filme hätten im 3-D-Format gedreht werden sollen. Natürlich verursacht es Schwierigkeiten, etwa was die Dunkelheit und die gewünschten Farben auf der Leinwand betrifft. In Larsens Buch findet man den Text ergänzende Zeichnungen, Landkarten und Skizzen - es bot sich förmlich an, diese Grafiken dreidimensional zum Leben zu erwecken, durch den Kinosaal fliegen zu lassen.

STANDARD: Der Film erzählt auch davon, was man sich nach einer langen Reise mit nach Hause nehmen soll. Was möchten Sie, dass sich das Publikum aus diesem Film mitnimmt?

Jeunet: Ich sehe mich hier weniger als Regisseur denn als Koch, der ein neues Gericht zubereitet hat und es nun mit seinen Gästen teilen will. Wenn sie es mögen, bin ich sehr stolz, wenn es ihnen nicht schmeckt, bin ich natürlich enttäuscht. Aber ich warte das Urteil nicht ab. Deshalb lese ich niemals Kritiken meiner Filme. (Michael Pekler, DER STANDARD, 5.8.2014)