STANDARD: Warum ist das Radiokulturhaus Ihr Wiener Lieblingsplatz? Ich hätte, in Bezug auf Ihre Profession, auf eine Kirche oder ein Gefängnis getippt.
Hubka: Weil die Adresse Argentinierstraße 35a, 1040 Wien, die erste öffentliche Adresse war, die ich als Kind gelernt habe. Im Radio gab es damals wöchentlich Kriminalgeschichten am Sonntag, Wer ist der Täter. Ich habe immer Postkarten mit der Lösung eingesandt - ich wurde leider nie gezogen.
STANDARD: Schon als Kind interessierten Sie sich für Kriminalfälle?
Hubka: Ich habe immer gerne Krimis gelesen, ich habe sogar einmal selbst einen geschrieben. Aber die Gefängnisseelsorge hat sich trotzdem anders ergeben. Das mache ich ja erst, seit ich in Pension bin. Das war der einzige Bereich im Pfarramt, von dem ich bis dahin keine Ahnung hatte. Ich habe ja in vielen Bereichen gearbeitet: Flüchtlinge, Obdachlose, nur das Gefängnis war nicht dabei. Da hat man mich eingefangen.
STANDARD: Dies ist ein Gespräch über Wien: Unterscheiden sich Wiener Justizanstalten von denen in anderen Bundesländern?
Hubka: Ja. Es ist weniger Platz. Vor allem die Justizanstalt Josefstadt ist in den achten Bezirk hineingepfercht, jetzt soll sie bei laufendem Betrieb umgebaut werden - ich möchte wissen, wie das gehen soll.
STANDARD: Ist es schlimmer in Wien als anderswo?
Hubka: Mit Sicherheit. In der Josefstadt ist der Innenhof so groß wie das Geviert hier (zeigt auf den kleinen Gastraum im Radiokulturcafé), die Leute sehen nur auf graue hohe Mauern. In anderen Haftanstalten sieht man zumindest wo einen Baum oder ein Blümchen. Man darf nicht unterschätzen, wie sich das auf das Gemüt der Menschen auswirkt.
STANDARD: Ist ein Gefängnis ein gottloser Ort?
Hubka: Die Leiterin der Justizanstalt Josefstadt sagt oft, das Gefängnis sei ein spiritueller Ort. Das unterschreibe ich.
STANDARD: Inwiefern?
Hubka: Es geht hier ununterbrochen ums Eingemachte. Hier kann ein Mensch sich selbst und seiner Geschichte nicht ausweichen. Man wird auf die Kernfragen zurückgeworfen. Wer bin ich, wer bist du, ist die Frage im Gefängnis. Wir haben als evangelische Seelsorge zwei Gottesdienste pro Woche, da dürfen jeweils nur 35 Leute dabei sein - aus Sicherheitsgründen. Ich könnte dreimal so viele Gottesdienste anbieten, ich habe Wartelisten. Die Gefangenen machen Werbung dafür: "Da geht es dir eine Stunde lang gut." Es geht nicht darum, was glaube ich, was nicht, es geht um die Sehnsucht, als ganzer Mensch gesehen zu werden. Nicht an einer einzigen Tat, einem einzigen Problem gemessen zu werden.
STANDARD: Mit wie vielen Inhaftierten sprechen Sie pro Besuch?
Hubka: Nach sechs Gesprächen bin ich zumeist streichfähig. Das Problem ist oft aber auch: Ich nehme mir vor, mit sechs Leuten zu sprechen - und einen Einzigen treffe ich an.
STANDARD: Warum das?
Hubka: Ich könnte jetzt böse sein und sagen: weil man mich nicht lässt. Ich komme im Grunde gut aus mit den meisten Beamten, aber mitunter ist so eine Spannung im Haus, dass selbst die wohlmeinendsten Wachebeamten sagen: Nein, heute nicht.
STANDARD: Der Strafvollzug steht derzeit stark in der Kritik, halten Sie diese für gerechtfertigt?
Hubka: Meine Kritik geht noch viel weiter: An die Öffentlichkeit kommen die für jeden Menschen wahrnehmbaren Grauslichkeiten. Worüber kaum jemand spricht, was aber mindestens so schlimm ist, ist der Mangel an Arbeit im Gefängnis: Man gewöhnt den Leuten das Arbeiten ab, man gewöhnt ihnen das Herumsitzen an. Das ist das Gegenteil von Resozialisierung. Die Leute werden krank: Es wird zu üppig und schlecht gekocht, es gibt zu wenig Bewegung, die Gefangenen gehen aus dem Leim. Ich habe vor kurzem jemanden besucht, der hat während zwei Jahren Haft keinen Sonnenstrahl gesehen. Der Mann war grau. Das muss man sich einmal vorstellen.
STANDARD: Wollen die Leute arbeiten?
Hubka: Und wie: Oft müssen sie sich entscheiden zwischen einem Spaziergang im Hof und irgendeiner Arbeit. Immer entscheiden sie sich für die Arbeit, und sie sind todunglücklich, wenn diese beendet ist.
STANDARD: Viele Experten sagen: Der Resozialisierungsgedanke sei in den Hintergrund getreten, es gehe um bloße Verwahrung.
Hubka: Dem stimme ich zu. Mehr noch: Verwahren klingt ja viel zu positiv. Wir machen die straffällig Gewordenen, die Probleme machen, unsichtbar für uns, indem wir sie aus dem Verkehr ziehen und einsperren.
STANDARD: Warum ist das so?
Hubka: Das ist ein gesellschaftliches Problem. Wir haben ein äußerst problematisches Menschenbild entwickelt. Du bist nur etwas wert, wenn du Spitzenleistungen vollbringst, du zählst nur, wenn du schön, gesund, gescheit und in allem super bist. Das fängt im Kindergarten an. Keiner ist zufrieden, wenn er ein durchschnittliches Leben führt. Jeder will besonders sein, in irgendeiner Weise. Das macht ein Stück unbarmherzig.
STANDARD: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch Wachebeamte, die sich bemühen, die darauf achten, wenn es Gefangenen schlechtgeht. Regel oder Ausnahme?
Hubka: Ohne statistische Evidenz, nur nach meiner Erfahrung würde ich sagen: Zwei Drittel sind Leute, die sich wirklich bemühen - im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Die sind ja nicht als Sozialarbeiter ausgebildet, die haben gelernt, wie man Leute mit Pfefferspray außer Gefecht setzt. Und die müssen sich bemühen, dass sie nicht selbst in die Mühlen kommen. Denn da gibt es noch das andere Drittel.
STANDARD: Welche Rolle spielt die Personalvertretung der Justizwache?
Hubka: Wenn ich Ihnen darauf eine Antwort gebe, bekomme ich eine Klage.
STANDARD: Sie schreiben auch, die erste Zeit der Haft sei entscheidend, da der Inhaftierte da extrem aufnahmefähig für Resozialisierung sei. Ist das bekannt?
Hubka: Wenn man es weiß, wird es ignoriert - von der gesamten Justiz. In Österreich dauert die Untersuchungshaft sehr lange - und da passiert sehr wenig. Die Inhaftierten sind sehr isoliert. Ich betreue einen Herrn, der saß 18 Monate in U-Haft, jetzt wurde die Verhandlung wieder verschoben. Die Leute kommen dann irgendwann raus und sind kaputt.
STANDARD: Sie gehen auch zu Verhandlungen mit?
Hubka: Leute, die ich intensiv betreue, begleite ich meistens. Ich bekomme oft Anklageschriften zu lesen. Leider muss ich sagen, die Qualität von Anklagen pendelt oft zwischen Dichtung und Wahrheit. Es wird psychologisiert, interpretiert, moralisiert - furchtbar. Das ist derzeit gang und gäbe. Und in den meisten Fällen zulasten des Angeklagten.
STANDARD: Gibt es im Gefängnis zu wenig Personal?
Hubka: Das vielleicht auch, aber es wird auch falsch eingesetzt. Die Häftlinge in Stein etwa dürfen zweimal pro Woche duschen, auf vielen Abteilungen gibt es aber keine Duschen. Dann müssen die Beamten die Leute auf andere Abteilungen führen. Das ist Personalverschwendung pur.
STANDARD: Ist Resozialisierung in der Haft überhaupt möglich?
Hubka: Ich würde nicht grundsätzlich sagen, dass Haft etwas Schlechtes ist. Es kann sogar sein, dass es eine Intervention ist, dass einer aus einer Situation herauskommt, aus der er selbst keinen Ausweg mehr findet. Denken Sie an Suchtkranke, auch Arbeitssüchtige. Oder Menschen, denen die Schulden über den Kopf wachsen. Oder die sich in einer durch und durch negativen Beziehungskiste befinden. Die fahren gegen die Wand und finden sich im Gefängnis wieder. Ein harter Stopp. Aber manchmal gesund - wenn es dort Angebote für einen Ausweg gibt. Mein Lieblingsbankräuber in Stein sagt, ohne Gefängnis wäre er schon tot, an Drogen gestorben. Jetzt studiert er. Leider sitzt er noch zwanzig Jahre, den könnte man problemlos in fünf Jahren rauslassen. Der wird nie wieder etwas Illegales tun, das weiß ich.
STANDARD: Das wird oft kritisiert: dass man in Österreich sehr lange in Haft sitzt.
Hubka: Das ist total kontraproduktiv. Kein Bankräuber überlegt sich: Bekomme ich zehn oder zwanzig Jahre, wenn ich diesen Überfall mache? Es erhöht also nicht den Sicherheitsgedanken. Es gibt eine gewisse Zeitspanne, da ist der Ehrgeiz von Inhaftierten noch nicht ganz erlahmt. Irgendwann, meist so nach zehn Jahren, werden sie stumpf und fühlen sich nur noch als Opfer von unendlich viel Willkür. Der Personalvertreter in Stein sagte ja ganz stolz im Fernsehen: "Wir haben Hoheitsgewalt." Das heißt: Ob einer duschen geht oder nicht, entscheidet der Wachebeamte. Das ist demütigend.
STANDARD: Wie könnte das verbessert werden?
Hubka: Ein einfacher Vorschlag: Einfach nur die Inhaftierten mit "Herr" und "Frau" anreden und mit ihnen per Sie sein - das ist wertschätzend und kostet nichts. Das hat nichts mit Streicheln zu tun, nur mit Respekt. Die Menschen im Gefängnis haben ein so geringes Selbstbewusstsein, die verachten sich selbst so sehr - man müsste sie aufbauen, nicht noch weiter hinunterdrücken.
STANDARD: Was tun mit Jugendlichen, die grausame Taten begehen? Ist das ein wachsendes Problem?
Hubka: Schwer zu sagen. Ich habe den Eindruck: Früher wurde gerauft, wenn einer auf dem Boden lag, war Schluss. Heute wird weiter hingetreten. Die Kinder sind nicht so auf die Welt gekommen. Man muss fragen: Was ist in dieser Biografie alles passiert? Nicht: Wieso bereust du das nicht? An mangelnder Reuefähigkeit sind immer Erwachsene schuld.
STANDARD: Was wünschen Sie den Inhaftierten und dem Justizsystem für die Zukunft?
Hubka: Dass all jene, die sich täglich dort bemühen, mehr wertgeschätzt werden - öffentlich und intern. Und jene in die Schranken gewiesen, die ihre "Hoheitsgewalt" menschenverachtend ausnutzen. Wertschätzung ist ein Gut, das wir in unserer Gesellschaft leider nicht mehr haben. (Petra Stuiber, Der Standard, 2.8.2014)