Die sogenannten "Lebensräder" sind gleichsam die Urzellen des Kinos. Dreht man diese Scheiben und blickt durch die Schlitze auf einen Spiegel, verschmelzen die Phasenbilder zu einer Bewegung. Erfinder war der Österreicher Simon Stampfer (1790-1864).

Foto: Simon Stampfer, Stroboskopische Scheibe, 1832 / Österreichisches Filmarchiv
Foto: Alexi Pelekanos / Filmarchiv
Foto: Alexi Pelekanos / Filmarchiv

Zur geplanten Wiedereröffnung des Metro-Kinos Mitte Oktober haben Filmarchiv Austria und Viennale gemeinsam ein besonderes Programm vorbereitet. Unter dem Titel "Krieg der Bilder" präsentiert das Filmarchiv zum 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs umfangreiches Material aus den eigenen Beständen von den unterschiedlichen Schauplätzen, das zum Teil unbekannt ist und nun nach Jahrzehnten wieder zugänglich gemacht wird. Mit diesen zum Teil auch digital restaurierten Filmquellen, darunter komplett erhaltene Frontberichte des k. k. Kriegspressequartiers, lässt sich die audiovisuelle Propaganda des ersten Medienkriegs der Geschichte authentisch nachzeichnen.

Für die Viennale hat der Schriftsteller Peter Handke auf Einladung des Festivals erstmalig eine Auswahl von Filmen getroffen, die für ihn und seine Arbeit im Laufe der Jahre von besonderer Bedeutung waren. Sozusagen "Lieblingsfilme" ganz unterschiedlicher Form und Herkunft. In dem rund 25 Filme umfassenden Programm "Peter Handke geht ins Kino" finden sich einige große Namen der Filmgeschichte, wie etwa John Ford, Ernst Lubitsch, Carl T. Dreyer oder Satyajit Ray, aber auch Ausgewähltes von Kiarostami, Pialat, Herzog und Straub/Huillet und Aktualitäten, so etwa BAMAKO von Abderrahmane Sissako (2006), MILYANG von Chang-dong Lee (2007) oder WADJDA von Haifaa Al-Mansour (2012).

Foto: Alexi Pelekanos / Filmarchiv

Noch heißt es: Betreten der Baustelle auf eigene Gefahr. Wer das Schild in der Wiener Johannesgasse vor dem Metro-Kino ignoriert und trotzdem in das Gebäude eindringt, der sieht Männer bei der Arbeit, Schubkarren, in denen Bauschutt nach draußen transportiert wird, provisorische Holzverschalungen und Planken, über die man balancieren muss, wenn man die durch Aushub erzeugten Gruben überqueren möchte.

Ernst Kieninger, der Leiter des Filmarchiv Austria, der normalerweise seine Arbeit in einem Büro im Augarten verrichtet, verbringt jetzt sehr viel Zeit im 1. Bezirk. Denn hier entsteht das Prestigeprojekt der Institution: ein neues Haus für den Film, das den Leitsatz des Archivs "to preserve and to show" optimal umsetzen soll. Kieninger führt den Besucher über die Baustelle, die noch aussieht wie Pompeji nach dem Ausbruch des Vesuvs. Im Erdgeschoß, in dem sich immer schon der Zuschauersaal des Metro-Kinos befand, wird auch weiterhin der rote Samt des historischen Ambientes regieren. Doch im Zuge der Restaurierungsarbeiten wurden innenarchitektonische Elemente des ehemaligen "Modernen Theaters" freigelegt, die von der gemeindeeigenen Kinobetriebsanstalt (Kiba), die den Saal viele Jahre lang als Filmtheater betrieben hat, zugebaut worden waren. Nach der geplanten Eröffnung Mitte Oktober wird man durch die Erschließung des ehemaligen Theatereingangs die frühere Größe und Struktur des Foyers ermessen können; auch das alte Kassahäuschen aus Holz wird in seiner ursprünglichen Form wiederhergestellt.

Auch die ganze massive Projektionsapparatur soll sich den Augen der Kinobesucher darbieten - in einer Art von freundlicher Variante der Spanischen Inquisition will Kieninger die Instrumente zeigen, mit denen die Illusionsmaschine Kino ihren Zauber entfaltet. Wir steigen, vorbei an einem neu ins Gebäude gestemmten Liftschacht, über die Treppen in die oberen Bereiche, die Ausstellungsflächen und ein Studiokino mit 60 Plätzen beherbergen. Dieses Kino wird den Namen des legendären Wiener Filmemigranten und langjährigen Präsidenten der Viennale Eric Pleskow tragen. Im zweiten Stockwerk schließlich, das das neue erweiterte Metro in der Vertikale abschließt, werden in einer nächsten Etappe der Fertigstellung audiovisuelle Sichtungsplätze eingerichtet, die es Studenten, Wissenschaftern, Filmleuten und einer allgemein interessierten Öffentlichkeit ermöglichen sollen, unter kontrollierten urheberrechtlich geschützten Bedingungen jene riesigen Archivbestände zu begutachten, die noch dem Copyright unterliegen und somit nicht ins Netz gestellt werden können.

Das Metro wird also zu einem multifunktionalen Kinodispositiv, zu einem Tower of Power der österreichischen Filmkultur, der das bewegte Bild der in Retrospektiven oder im Rahmen diverser Sonderveranstaltungen wie der Viennale gezeigten Filme mit der Statik von Ausstellungsobjekten in ein Spannungsverhältnis setzt und die Gegenwart des aktuellen Schaffens immer vor dem Hintergrund einer umfangreichen kinematografischen Tradition denkt: Das Filmarchiv Austria beherbergt in seinen Depots in Laxenburg mehr als 200.000 Filmtitel, darunter sämtliche erhaltenen österreichischen Spielfilme und eine umfangreiche Sammlung historischer Dokumente.

Die ältesten Titel sind die Wien-Aufnahmen der Gebrüder Lumière aus dem Jahr 1896, die älteste österreichische Filmproduktion ist die Dokumentation Der Kaiserbesuch in Braunau/Inn aus dem Jahr 1903, aufgenommen vom Wanderkinobesitzer Johann Bläser. Dazu kommen etliche geschlossene Sammlungen wie der sogenannte "Goldstaub-Bestand", der als die bedeutendste Sammlung zur Frühgeschichte des Kinos gilt, und die Sammlung Köfinger, die Tourismusfilme aus der Stummfilmzeit enthält. Nicht zu vergessen die schier unendliche Zahl von Amateurfilmen, die nach Aufrufen in Niederösterreich und im Burgenland wie ein Tsunami über das Archiv hereinbrechen.

"Wenn wir da jetzt nicht aktiv werden", sagt Kieninger, "haben wir in 20, 30 Jahren kein repräsentatives Bild mehr von der nichtprofessionellen Laufbildproduktion in Österreich. Diese Formate, Super 8 oder was auch immer, werden heute in Zeiten des Digitalen sackweise weggeschmissen. Die analogen Amateurfilme sind als Medium obsolet, die Maschinen, die Hardware gibt's nicht mehr oder sie sind nicht mehr funktionstüchtig. Und damit werden diese Zeugnisse der Alltagskultur in ganz großem Ausmaß vernichtet."

Man mag sich die Frage stellen, wie viele Filme vom Geschenkeauspacken unter dem Weihnachtsbaum oder vom Familienurlaub in Caorle gesichert werden müssen, um ein repräsentatives Bild der Alltagskultur in Österreich zur Jahrtausendwende zu erhalten. Und wie künftige Archivare mit der noch viel größeren Zahl von digitalen Smartphone-Filmen umgehen werden, die das gesellschaftliche Leben beinahe flächendeckend dokumentieren. Diese Frage stellt sich Ernst Kieninger derzeit jedoch nicht, sondern er verfolgt einen enzyklopädischen Ansatz: "Wir machen die Scheunentore weit auf und schauen, dass wir möglichst viele Sachen hereinbekommen. Es ist inhaltlich ganz, ganz schwierig, vor dem Einholen des Materials einen Selektionsprozess zu definieren und zu sagen: Wir nehmen nur Alltagsgeschichte, wir nehmen nur Dokumentationen, wir nehmen nur Fernreisen in den 1960er-Jahren. Die Leute wissen oft einfach nicht mehr, was auf ihren Filmen drauf ist. Und es ist eben unsere Aufgabe, das herauszufinden und zu beschlagworten, sodass man damit arbeiten kann."

Das Archiv als Katalysator

Doch das Filmarchiv Austria sammelt, restauriert und präsentiert nicht nur bewegte Bilder in unterschiedlichsten Formaten wie Nitrofilm, 8 mm, Super 8, 9½ mm, 16 mm, 35 mm und 70 mm, sondern beherbergt auch andere österreichische Filmdokumente. So sind im Lauf der Jahrzehnte 2.000.000 Fotos und Filmstills zusammengekommen, 40.000 Filmprogramme, 12.000 Plakate, 30.000 Bücher zur Filmgeschichte und -theorie sowie eine umfangreiche Geräte-, Dokumente- und Kostümsammlung. Ernst Kieninger kann mit Recht behaupten, dass die Institution "das audiovisuelle Gedächtnis der Republik Österreich" ist, eine Art Nationalbibliothek der Laufbilder. Doch im Gegensatz zu Büchern, die in Regalen gut aufgehoben seien, müssten Filme regelmäßig aufgeführt werden, um nicht zu totem Archivgut zu degenerieren. "Wir sehen es schon als Aufgabe", sagt er im Hinblick auf das neue Metro, "dass wir eine Infrastruktur schaffen, die alles enthält und ermöglicht - ein sichtbares Kino gewissermaßen. Es geht ja nicht nur um den Film per se, sondern auch um den Aufführungsort, der das Archivmaterial zum Sprechen bringt und damit am Leben erhält. Wir wollen diese Abspielmaschine in ihrer ganzen Bandbreite von ganz frühen analogen Formaten bis zum heutigen digitalen Format zur Verfügung stellen, um damit auch eine Auslage für das Filmarchiv zu haben." Keine passive Speicherzone, sondern ein dynamisches Kompetenzzentrum mit der Absicht, dem profanen Raum so viel Material wie möglich zu entreißen, um es im Sinne von Michel Foucaults erweitertem Archivbegriff in ein System zu überführen, in dem es nicht um gesagte und gezeigte Dinge geht, sondern um die Bedingungen von Aussagen und visuellen Spurensicherungen. Das Archiv als Katalysator des Vorzeigbaren.

Das Projekt des neuen Metro-Kinos, das neben einer Reihe von öffentlichen Förderungen zu wesentlichen Teilen von privaten Unterstützern wie der VDFS (=Verwertungsgesellschaft audiovisuelle Medien), der Satel Privatstiftung und der RD Foundation von Ingrid und Christian Reder oder durch Rahmenvereinbarungen mit Fernsehstationen und anderen Nutzern der Archivinhalte finanziert wird und damit ein Musterbeispiel einer Private Public Partnership darstellt, steuert also auf ein Happy End zu. Damit konnte nicht unbedingt gerechnet werden. Denn der erste Versuch des Filmarchivs vor einigen Jahren, wesentliche Funktionen zusammenzuführen und in Partnerschaft mit dem Festival Viennale vor allem die Schnittstelle zur Öffentlichkeit auszubauen, war glorios gescheitert.

Damals existierte für den Standort Augarten bereits ein ausgearbeitetes architektonisches Konzept des Büros Delugan Meissl, das sich elegant in das geografische Environment und die barocke Architektur einfügte. Einige Pläne, die jetzt in der Johannesgasse verwirklicht werden, waren schon damals Teil des Projekts. Delugan Meissl hatten einen rund 150 Sitze fassenden Kinosaal konzipiert, einen kleineren Studiosaal mit 80 Plätzen sowie 750 Quadratmeter unterirdische Ausstellungsfläche und eine audiovisuelle Bibliothek mit zehn Terminals. Dazu wären ein Terrassencafé und ein 350 Sitze umfassendes Freiluftkino mit einer 120 Quadratmeter großen Leinwand gekommen. Mit Ingrid und Christian Reder wurden private Finanziers gefunden, die sich bereit erklärten, die Finanzierung dieses ambitionierten Projekts im Sinne der Stärkung zivilgesellschaftlichen Engagements im Kulturbereich zur Gänze zu übernehmen.

Doch die Wiener Stadtpolitik hatte andere Präferenzen und ermöglichte es stattdessen einem Mäzen, einen Konzertsaal für die Wiener Sängerknaben ins Eck zwischen Oberer Augartenstraße und Castellezgasse zu stellen. Eine Tatsache, die in der Öffentlichkeit und in den Medien zu kritischen Kommentaren und Kontroversen führte.

Keine Tricks und Zaubereien

Ernst Kieninger bemühte sich dennoch weiter um die Realisierung dieses Projekts, wobei ihm ein glücklicher Zufall zu Hilfe kam. Denn ohne die Abwanderung einige Mieter in dem Gebäude, in dem das Metro-Kino untergebracht ist, wäre die Vorstellung eines in die Vertikale gestreckten "Filmkulturzentrums" nicht einmal eine Denkmöglichkeit gewesen. Es seien keine Tricks und Zaubereien notwendig gewesen, erklärt der Chef des Filmarchivs. Auch keine Freunderlwirtschaft und politische Protektion. "Das Metro-Kino betreiben wir ja schon seit 2002. Gewissermaßen als Showroom und öffentliche Bühne des Filmarchivs, wo wir unsere restaurierten Bestände im Rahmen von Sonderprogrammen Retrospektiven zeigen können. Irgendwann bemerkte ich, dass der erste Stock des Gebäudes leerstand - das war der Tanzsaal des benachbarten Konservatoriums. Wir fragten ohne Umschweife bei Wiener Wohnen, die das Gebäude verwalten, nach, ob die Räumlichkeiten zu mieten seien. Daraufhin erhielten wir, so wie jeder andere Interessent, einen Besuchsschein, der es uns gestattete, eine halbe Stunde zu besichtigen und uns danach zu entscheiden. Wir sagten Ja - and that was that." Mit dem Erdgeschoß, dem Mezzanin und dem ersten Stock erhielt die Vorstellung von einem multifunktionalen Filmkulturzentrum schon präzise Konturen. Dann verlagerte auch eine Sprachschule im zweiten Stock ihren Standort, und weitere Räumlichkeiten wurden frei. Kieninger griff beherzt zu und verfügt nun über so viel Fläche, dass ein Großteil der Funktionen, die für den Augarten vorgesehen waren, auch in der Johannesgasse umgesetzt werden kann. Für den Architekten Dominik Aichinger bedeutete dies eine substanzielle Verlängerung der Planungs- und Bauphase. Dafür aber mehr Gestaltungsraum, der eine bessere Balance zwischen dem historischen Baubestand und den zeitgenössischen Interventionen des Gestalters garantiert. So entfaltet sich in Zukunft im Metro-Kino eine Dialektik aus Alt und Neu, die die historische Dimension der Kinematografie in Erinnerung hält und gleichzeitig deren Gegenwart und Zukunft beschwört. Neben der Präsentation der historischen Filmdokumente wird das Kino auch Ort der Auseinandersetzung mit dem aktuellen österreichischen Film in seinen vielfältigen Formen und Genres sein.

Auch das Ausstellungsprogramm ab 2015 soll diesem Umstand Rechnung tragen. Besonders am Herzen liegt dem bekennenden Kino-Nerd Ernst Kieninger eine Schau zum Thema Pre-Cinema, in der Bewegtbildapparaturen vor der Erfindung der heute üblichen Projektoren gezeigt werden sollen: etwa Lebensräder, Wundertrommeln, Mutoskope, Laternae Magicae oder das Elektrotachyscop, auch Elektrischer Schnellseher, ein ab 1886 von Ottomar Anschütz entwickeltes Gerät zur Projektion von chronofotografisch erzeugten Reihenbildern. Darüber hinaus verfügt das Filmarchiv Austria über viele Nachlässe zahlreicher prominenter, aber auch vergessener Regisseure, Autoren und Schauspieler, die nur darauf warten, aufgearbeitet und präsentiert zu werden. An den zukünftigen Filmprogrammen und Ausstellungen wird sich neben anderen möglichen Partnern auch die Viennale beteiligen, die schon von Anfang an das Projekt als Partner des Filmarchivs mit unterstützt hat. Etwa mit einer Ausstellung über den österreichischen Avantgarderegisseur Kurt Kren oder einem Projekt, das die Factory von Andy Warhol als Kreativzelle der New Yorker Subkultur und des Avantgardefilms jener Epoche aufzeigt.

Das neue Metro-Kino in der Johannesgasse ist der Schlussstein in der institutionellen Architektur des Filmarchiv Austria. Heute, in den Zeiten eines allgemeinen Digitalisierungswahns und der allgemeinen Verfügbarkeit des Laufbildes im Netz, haben sich die Schwerpunkte verschoben. Es geht zwar immer noch um Konservierung, Restaurierung und Langzeiterhaltung der fragilen Materialien - bereits 2004 errichtete das Filmarchiv ein Sicherheitsfilmdepot in Laxenburg, 2010 wurde dann ein neues Nitrofilmlager in Betrieb genommen, das aufgrund neuester physikalischer Erkenntnisse vollkommen aus Holz besteht. Immer mehr aber auch darum, den Produktions- und Aufführungsort Kino zu erhalten, der vom Verschwinden bedroht ist. "Es geht um das Kino als Ort der kollektiven Auseinandersetzung mit den bewegten Bildern", sagt Ernst Kieninger, "aber auch um die technische Infrastruktur, die noch in der Lage ist, das analoge Filmbild, also jenes Material, das im Filmarchiv immer noch dominiert, in einer authentischen Form auf die Leinwand zu bringen. Den technischen und kulturellen Kontext einer Filmaufführung im Kino lebendig zu erhalten - diese wichtige Arbeit und große Herausforderung wollen wir im neuen Metro-Kino leisten."

Die analogen Amateurfilme sind als Medium obsolet, die Maschinen, die Hardware gibt's nicht mehr. Damit werden Zeugnisse der Alltagskultur in großem Ausmaß vernichtet. (Thomas Mießgang, Album, DER STANDARD, 2./3.8.2014)