Die Visualisierung der Daten führt das Leben und Sterben von Kunstschaffenden in Europa zwischen dem Jahr 0 und 1856 vor Augen.

Illustration: Maximilian Schich & Mauro Martino, 2014

Zürich/Dallas/Wien - "Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts", heißt es beim Philosophen Walter Benjamin. Andererseits führen auch alle Wege nach Rom. Und war nicht auch Wien um 1900 ein kulturelles Zentrum von Weltgeltung?

Eine umfangreiche Datenanalyse hat die kulturelle Bedeutung von Orten in Europa und Nordamerika in den vergangenen 2.000 Jahren auf neuartige Weise sichtbar gemacht und die Migration von Hunderttausenden von Individuen nachgezeichnet. Die Studie, erschienen im Fachjournal "Science", zeigt unter anderem, dass Paris tatsächlich seit sieben Jahrhunderten Künstler anlockt, dass Rom im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung dominant war, dass Hollywood aber auch schon relativ lange über eine große Sogwirkung verfügt.

Für die Analyse hat ein Team um den Kunsthistoriker Maximilian Schich von der Universität von Dallas (US-Bundesstaat Texas) und der ETH Zürich die Geburts- und Sterbeorte von 150.000 namhaften Kulturschaffenden statistisch ausgewertet. Diese erhielten die Forscher aus drei internetbasierten Künstler-Datenbanken.

Die Auswertung stellt das Leben und Sterben der Kulturelite der letzten 2.000 Jahre auf Karten Europas und Nordamerikas dar. Sie zeigt auf, welche Orte in welchen Zeiträumen kulturell attraktiv waren, und enthüllt die Migrations- und Interaktionsmuster der Kulturschaffenden. Videos zeigen zudem die Dynamik dieser Migrationsprozesse für die letzten 2.000 Jahre.

Datenvisualisierung I: Historische Mobilität in Europa von 0 bis 2012. Blau zeigt den Geburtsort von Individuen an, rot den Sterbeort. Der Film läuft mit einer Geschwindigkeit von einem Jahr pro Frame ab bei 30 Frames pro Sekunde.
Maximilian Schich

Rom: Europas Kultur-Hochburg

Wenig überraschend zeigen die Mobilitätsmuster, dass ein Großteil der kulturellen Entwicklung in Europa von Rom ausging. Sie demonstrieren auch, wie Nordamerika nach seiner Entdeckung allmählich erschlossen wurde. Man sieht einen starken Sog in Richtung Westküste, etwa das heutige Hollywood.

In Paris ist das Sterben von namhaften Künstlern vor allem für die Zeit nach dem 13. Jahrhundert dokumentiert. Damit konnten die Forscher grafisch darstellen, wie Paris seine Rolle als zentraler Knotenpunkt des kulturellen Schaffens kontinuierlich ausbaute. Diese Tendenz setzte bereits kurz vor dem 15. Jahrhundert ein, also rund 200 Jahre vor dem Absolutismus.

Während Frankreich stärker zentralisiert wurde, fanden in Deutschland und anderen Staaten Europas Föderalisierungsprozesse statt. So wechseln sich in Deutschland vom 13. Jahrhundert an Städte wie München, Köln, Leipzig, Heidelberg, Dresden, Hamburg oder Berlin als attraktive Orte für Künstler ab. Auch Wien findet sich laut Publikation unter den zwölf historisch für Kulturschaffende relevantesten Städten, seinen Zenit erlebte die österreichische Hauptstadt allerdings bereits zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert.

Datenvisualisierung II: Hier geht es um die Mobilität in Nordamerika zwischen 1620 und 2012. Blau zeigt wiederum den Geburtsort von Individuen an, rot den Sterbeort.
Maximilian Schich

Künstler zieht es nicht nur zu ökonomischen Zentren

Neu für die Kunstgeschichte ist laut den Autoren die Erkenntnis, dass nicht nur ökonomische Zentren oder große Orte Künstler anzogen. Im anfangs kleinen Hollywood - ein Stadtteil von Los Angeles und Anziehungspunkt für Schauspieler und Drehbuchautoren - starben zehnmal mehr Kulturschaffende, als dort geboren wurden.

Laut Schich ist das datenbasierte Instrument eine Art "Makroskop", mit dem sich Regelmäßigkeiten und Trends in Daten erkennen lassen und interessante kulturhistorische Phänomene leichter zu orten sind. Für die Studie haben Kulturhistoriker, Netzwerkanalysten, Komplexitätsforscher und Informationsdesigner zusammengearbeitet.

Als Weiterentwicklung empfehlen die Forscher, das Netzwerk der Kulturschaffenden mit historischen Ereignissen zusammenzubringen, indem sie dieses mit der Suchfunktion Ngrams von Google verknüpfen. Damit lassen sich Abertausende von Büchern nach Stichworten durchsuchen.

Ein Teil der Studie wurde in der Arbeitsgruppe des Soziologen Dirk Helbing an der ETH Zürich durchgeführt, der eigentlich der Ausbildung nach Physiker ist. Die Arbeit wurde im ansonsten eher naturwissenschaftlich ausgerichteten Fachjournal "Science" veröffentlicht, was für geisteswissenschaftliche Studien eine Seltenheit ist und für die methodische Innovation der Studie spricht. (APA/red, derStandard.at, 03.08.2014)