Die Jacken flattern im Wind, die Wellen peitschen an die Reling, und der Boden schaukelt mächtig auf und ab, als die Gorch Fock Kurs auf die Insel Langeoog nimmt. Der Fischkutter mit dem Namen des berühmten Großseglers startete im ostfriesischen Hafen von Spiekeroog und ist zur Nachbarinsel unterwegs.

Dösen auf der Sandbank

Als am Horizont eine Sandbank auftaucht, rennen alle Passagiere nach Backbord. Handys, Kameras und Ferngläser werden gezückt. Im Fokus: neun Seehunde, die dösend auf dem Boden liegen. Kapitän Willi Jacobs drosselt das Tempo und erklärt, dass die Tiere sehr lärmempfindlich seien, obwohl sie wüssten, dass ihnen im Watt keine Gefahr drohe: "Die Gorch Fock erkennen sie am Motorengeräusch."

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Foto: dpa/Carsten Rehder

Seit Juni 2014 ist das Weltnaturerbe Wattenmeer komplett. 2009 wurden bereits weite Teile vor der deutsch-niederländischen Küste unter Unesco-Schutz gestellt, jetzt kamen noch die dänischen Gebiete und die deutschen Offshore-Zonen dazu. Die Stars des Watts, Publikumsmagneten und Sympathieträger sind freilich die Seehunde mit ihrem kleinen, runden Kopf, den dunklen, glänzenden Augen und der Stupsnase.

Publikumsmagnet und Sympathieträger

Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) schickt Seehund Nobbi durch Schulen und Kindergärten, um mit dem Plüschtier Verhaltensregeln beim Baden zu vermitteln. Und im Kölner Zoo zeigte unlängst auch ein Promi seine Vorliebe für die Meeressäuger - Fußballspieler Lukas Podolski. Er köpfte mehrmals einen Ball zur Schnauze eines Seehunds, der die Kugel immer wieder gekonnt zurückstupste.

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Foto: APA/dpa

Feiner ist es trotzdem, die Tiere in freier Wildbahn zu erleben. Schon von den Fähren aus, etwa beim Übersetzen von Norddeich nach Norderney, kann man oft Seehunde sehen. Ausflüge zu den Seehundbänken werden in vielen Hafenorten der Nordseeküste und auf den Inseln angeboten.

Sandbank-Babys

Zur Freude der Passagiere der Gorch Fock robben nun zwei Seehunde mit ihren faustartig eingekrümmten Vorderflossen gemächlich ins Wasser. Dort werden die beiden plötzlich blitzschnell, sausen durch die Wellen, tauchen und sind verschwunden. Wasser ist ihr Element, bis zu 200 Meter tief und 30 Minuten lang können sie tauchen. Wenn im Juni die Weibchen bei Ebbe ihre Babys auf einer Sandbank zur Welt bringen, planschen die Kleinen bei der nächsten Flut bereits im Wasser.

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In Friedrichskoog an der Nordseeküste Schleswig-Holsteins und in Norddeich kann man Robbenwaisen in Deutschlands beiden Seehundstationen ganz nah kommen. Dort werden jährlich jeweils mehr als 100 Jungtiere aufgepäppelt. Highlight für Besucher ist die Fütterung, zu beobachten durch verspiegelte Glasscheiben.

Als Ersatz für die Muttermilch erhalten die Kleinen eine Nährlösung, später Heringsbrei und schließlich ganze Fische - bis die Robben 15 Kilogramm wiegen und ins Auswilderungsbecken kommen. Ab einem Gewicht von 25 Kilogramm sind die Jungtiere fit für die Nordsee und können tatsächlich ausgewildert, das heißt, auf einer Sandbank ausgesetzt werden.

Regeln für den Seehund-Fund

Es ist nichts Ungewöhnliches mehr, die Tiere am Strand anzutreffen. Seit dem Verbot der Robbenjagd Anfang der 1970er-Jahre und der Einrichtung von Schutzzonen bei der Gründung der Wattenmeer-Nationalparks sind die Seehunde nicht mehr so menschenscheu. "Seehund, was nun?" - Mitarbeiter der Kurverwaltung und der Seehundstation Norddeich verteilen neuerdings Plakate mit diesem Slogan, um über das richtige Verhalten beim "Fund" eines Seehunds zu informieren. Denn zwischen Juni und August könnte es sich bei einer einzelnen kleinen Robbe um ein verwaistes Jungtier, auch Heuler genannt, handeln. Es heißt so, weil es Klagelaute von sich gibt, um wieder Kontakt zu seiner Mutter herzustellen.

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Foto: dpa/Carmen Jaspersen

Menschen sollten dann mindestens 300 Meter Abstand halten, die Robbe keinesfalls angreifen und am besten den Ort wieder verlassen. Im Zweifelsfall verständigt man die Seehundstation, deren Fachkräfte die Situation einschätzen. Doch auch sie müssen aufpassen, dass sie keine Robbe einsammeln, zu der die Mutter gerade zurückkehren wollte. Zwischen September und Mai ist die Situation klarer, dann ist es mit größter Wahrscheinlichkeit ein selbstständiges Tier, das keine Hilfe, sondern nur Ruhe benötigt.

Stabile Population

Die Population der Seehunde im Wattenmeer von Deutschland, Dänemark und den Niederlanden ist längst stabil. Nach Daten der Seehundexpertengruppe Trilateral Seal Expert Group sind seit Beginn der Seehundzählungen 1975 noch nie so viele Seehunde erfasst worden wie im Jahr 2013, nämlich 26.788. Dazu addieren die Wissenschafter eine geschätzte Zahl der Tiere, die während der Kontrollflüge unter Wasser nicht zu sehen waren, und kommen auf eine Summe von knapp 40.000. Nur der Bestand an Kegelrobben, der zweiten im Watt vorkommenden Robbenart, ging zurück.

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Umweltschützer kritisieren, dass Verschmutzungen, Erdölbohrungen und auch zu viele Touristen der Tierwelt im Wattenmeer schadeten. Seit das Weltnaturerbegebiet 2014 erweitert wurde, erstreckt es sich nun auf 11.500 Quadratkilometer, vom dänischen Esbjerg über die Küste Deutschlands bis zum niederländischen Den Helder. Doch die Unesco-Auszeichnung diene ausschließlich der "Tourismusindustrie", meint etwa der Wattenrat Ostfriesland, der Natur habe das Etikett bisher nicht genützt. (Dietmar Scherf, Rondo, DER STANDARD, 01.08.2014)