Die Eskalation der Kämpfe rund um den Gazastreifen stellt die Grundlage der israelischen Nahostpolitik des vergangenen Jahrzehnts infrage. 2005 hat der damalige Premier Ariel Sharon den einseitigen Rückzug aus dem Landstrich durchgesetzt, ohne dies in eine umfassende Friedenslösung mit der Palästinenserführung einzubetten.

Als die Hamas dort einige Jahre später die Macht übernahm, folgte eine Politik der Eindämmung: Mit einer Blockade sollten die Islamisten geschwächt oder gar gestürzt, mit einer Militäroffensive alle paar Jahre ihr Raketenarsenal dezimiert, mit dem Abwehrsystem Iron Dome die eigene Bevölkerung geschützt werden. Irgendwie, dachte die israelische Führung rund um Premier Benjamin Netanjahu, könnte man so weitermachen, ohne die schmerzhaften politischen Zugeständnisse zu machen, die eine glaubwürdige Zweistaatenlösung erfordert - vor allem einen totalen Stopp des Siedlungsbaus. Als die Hamas dann ihre wichtigsten ausländischen Unterstützer in Syrien und Ägypten verlor, schienen die radikalen Israel-Feinde am Ende.

Doch der Verlauf der Kämpfe hat eines gezeigt: Die Hamas hat einen so großen Anteil ihrer schmalen Ressourcen in den Bau von Raketen und Tunnel nach Israel gesteckt, dass sie nun stärker ist als gedacht. Die Tunnel mögen zwar militärisch wenig Wert besitzen, aber sie sind eine wirkungsvolle psychologische Waffe - eine, die auch die israelischen Befürworter eines Palästinenserstaates in die Defensive bringt. Denn wer kann ausschließen, dass ein solcher Staat im Westjordanland nicht ebenso zu einem Stützpunkt für Dauerangriffe auf Israel wird, aber diesmal auf das Kernland rund um Jerusalem und Tel Aviv?

Anders als 2008 und 2012 kann Israel seine Offensive daher nicht einstellen, solange das militärische Rückgrat der Hamas nicht gebrochen ist. Und auch die Hamas hat keinen Grund, mit ihren Angriffen auf zivile Ziele in Israel aufzuhören, wenn sie wieder keinen nachhaltigen politischen Erfolg vorweisen kann - in erster Linie eine Aufhebung der Blockade. Und sollte die Hamas am Ende des Krieges doch als klarer Verlierer dastehen, dann dürften noch extremistischere Kräfte unter den Palästinensern an Einfluss gewinnen.

Israels Ruf nach einer Demilitarisierung des Gazastreifens ist legitim. Aber möglich wäre das nur durch eine vollständige Besatzung - ein furchtbares Szenario - oder einen politischen Deal mit der Hamas, der auf eine gegenseitige Tolerierung ohne formelle Anerkennung hinausläuft. Ohne diesen können auch internationale Truppen diese Aufgabe nicht lösen.

Der erste Schritt in Richtung eines solchen Deals hätte die Bildung der palästinensischen Einheitsregierung im Juni sein können. Doch diese Chance hat Israels Regierung ganz bewusst ausgeschlagen. Sie hat damit auch ihren wichtigsten Verhandlungspartner, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, im Regen stehen lassen.

Auch Abbas hasst die Hamas, genauso wie der Großteil der arabischen Staaten. Aber selbst wenn sie keine Raketen mehr übrig hat, geht sie aus einem Konflikt wie diesem dank ihrer Märtyrerrolle politisch gestärkt heraus. Wie aus den Ruinen dieses Krieges die Chance für neue Verhandlungen erwachsen soll, ist völlig unklar. Aber eine Folge zeichnet sich ab: Der Traum vieler Israelis, mit dem bequemen Status quo der Besatzung einfach weiterleben zu können, hat sich zerschlagen. (Eric Frey, DER STANDARD, 30.7.2014)