Sigrid Schmitz über verbale Grenzüberschreitungen: "Ich finde es vollkommen okay, wenn jemand schreibt: 'Ich bin anderer Meinung als Frau Schmitz.' Aber es geht um beleidigende und juristisch bedenkliche Aussagen."

Foto: Barbara Mair

Die Biologin und feministische Wissenschaftsforscherin Sigrid Schmitz beobachtet, dass gesellschaftliche Debatten im Internet zu einem "Gender-Bashing" ausarten. Hinter "homophoben, sexistischen und rassistischen Angriffen" vermutet sie eine "tiefe Angst und Unsicherheit". In Krisenzeiten würden Menschen stärker an Gewohnheiten festhalten: "Wenn es um Geschlecht geht, müssen plötzlich Sicherheiten her", sagt Schmitz. Mann und Frau hält die Biologin – in Hinblick auf aktuelle Untersuchungsergebnisse aus der Neurowissenschaft – als Kategorien für zu kurz gegriffen. Das Gehirn ähnle einem Mosaik, das immer auch von Erfahrungen und gesellschaftlichen Stereotypen beeinflusst werde. Um Vorurteile abzubauen, sei daher "auch aus naturwissenschaftlicher Perspektive" eine geschlechtssensible Schreibweise notwendig.

derStandard.at: Anlässlich der lebhaften Debatte über eine geschlechtergerechte Sprache: Woran denken wir, wenn wir "Ärzte" hören oder "Anwälte"?

Schmitz: In einem kürzlich ausgestrahlten Fernsehbeitrag wurden Menschen auf der Straße gefragt, woran sie bei dem Begriff Arzt denken. Die Bandbreite der Antworten ist groß: Manche sagen, sie denken an alle. Aber zum überwiegenden Teil denken die Menschen an Männer. Das ist der Hintergrund der Debatte um geschlechtergerechte Sprache. Die Sprache bestimmt unser Bewusstsein, unsere Vorstellung. Deshalb müssen Formen diskutiert werden, die alle möglichen Geschlechter wahrnehmbar machen. Das Binnen-I ist eine Form. Es ist dazu da, Frauen und Männer in der Sprache sichtbar zu machen. Es gibt weitere Formen. Wie gut sie sich durchsetzen, wird sich zeigen. Vielleicht stellt das Binnen-I Selbstverständliches infrage und macht aufmerksam. Das soll es auch.

derStandard.at: Beiträge in Internetforen sprechen vehement dagegen.

Schmitz: Ich nenne das, was da gerade stattfindet, Gender-Bashing. Kritikerinnen und Kritiker der Genderforschung gab es schon immer, zu manchen Zeiten mehr, zu anderen weniger. Und momentan ist es extrem. Hinter dieser ganzen Diskussion steckt, nicht nur aus meiner Sicht, die Aussage: Jetzt reicht es "uns" – wer immer das "uns" auch sein mag – mit der Genderforschung. Ihr FeministInnen habt genug verändert, erreicht, verunsichert. Wenn eine Debatte so heftig geführt wird wie jetzt gerade – und da ist die Binnen-I-Debatte noch die moderateste, auch wenn das jetzt sonderbar klingt –, werden Angriffe über Blogs, über Internetforen und Zeitungsartikel immer massiv.

Homophobe, sexistische und rassistische Angriffe kommen derzeit aus vielen Ecken. Sie zeugen von einer tiefen Angst und Unsicherheit. Anders ist nicht erklärbar, warum Menschen andere Meinungen, die sie ja durchaus haben können und sollen, in einer Form kundtun, die jegliche Grenze des Respekts unterschreitet. Die Bundesministerin Heinisch-Hosek merkt nur an, dass die Bundeshymne korrekt gesungen werden soll, und bekommt Morddrohungen.

derStandard.at: Woher kommt diese Angst?

Schmitz: In Krisenzeiten wird stärker gegen "die anderen", wer auch immer das ist, argumentiert. Und im Moment werden Krisenzeiten allerorten ausgerufen: die Krise der Männer, die Krisen der Jungen, die Krise "unserer" Gesellschaft schlechthin. Und an allen Krisen sind laut den angesprochenen Blogbeiträgen oder Artikeln die FeministInnen schuld. Oder Menschen anderer Hautfarbe, anderer Kulturen, die "uns" scheinbar bedrohen. Es wird ein "anderes" geschaffen, das für die Krise verantwortlich gemacht wird. Das Phänomen ist nicht neu. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass in den letzten zwei Jahren eine Büchse der Pandora geöffnet worden ist. Im Netz werden Dinge gepostet, die jegliche soziale Kommunikation sprengen.

derStandard.at: Was ist die Konsequenz? Foren schließen? Das Internet hat oft auch großes Potenzial für demokratische oder Frauenanliegen gebracht.

Schmitz: Wir leben in einer Netzgesellschaft. Es wäre Quatsch zu sagen, wir wollen sie nicht. Sie hat viele Vorteile. Das Netz bietet einen Platz für unterschiedliche Positionen. Das ist wichtig, richtig, und das soll auch so bleiben. Aber Grenzen in der Kommunikation müssen klar gezogen werden. Ich finde es vollkommen okay, wenn jemand schreibt: "Ich bin anderer Meinung als Frau Schmitz. Ich finde, das Binnen-I soll weg." Oder: "Es gibt doch Unterschiede, das sieht man doch." Kein Problem. Aber es geht um beleidigende und juristisch bedenkliche Aussagen. Mein Vorschlag wäre, Blogs besser zu moderieren oder im schlimmsten Fall zu schließen. Es sollte immer auch eine Genderexpertin oder einen Genderexperten in den Medien geben. Dabei geht es nicht darum, eine "Gender-Polizei" einzurichten. Nein, es geht darum, dass Menschen, die auch eine entsprechende Ausbildung haben, die Entscheidung unterstützen, was sozial vertretbar und was eine Beleidigung oder Verletzung ist.

derStandard.at: Zu den vermeintlichen Unterschieden zwischen Frauen und Männern: Sie werden immer wieder zu belegen versucht – durch die Biologie, die Evolution oder durch die Neurowissenschaft.

Schmitz: Zunächst einmal ist die neurowissenschaftliche Befundlage zu Geschlechterunterschieden – und das wird Ihnen heute jeder und jede NeurowissenschafterIn bestätigen – sehr widersprüchlich. Die Frage der Methoden muss bei der Gehirnforschung sehr differenziert angeschaut werden. Es gibt inzwischen Studien, die das machen. Da kommen viel differenziertere Ergebnisse zum Vorschein. In einer aktuellen neuroanatomischen Untersuchung wurden beispielsweise 160 Gehirnareale von circa 700 Männern und Frauen genau analysiert. Das Ergebnis: Es gibt nicht das Männergehirn oder das Frauengehirn. Jedes Gehirn ist ein Mosaik. Dazu kommt: Unterschiede in "Brain Images", meist von Erwachsenen, sind zunächst einmal kein Beweise, ob diese Unterschiede biologisch sind oder erlernt. Das Gehirn verändert sich beständig mit unseren individuellen Erfahrungen, es ist plastisch. Auch das erklärt, warum Gehirne und Menschen so einzigartig sind und Generalisierungen über scheinbar so einfache Kategorien wie Frau oder Mann falsch sind.

derStandard.at: Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther vergleicht das Gehirn mit einem Orchester: Es sei grundsätzlich bei Männern und Frauen mit den gleichen Instrumenten besetzt. Die hormonelle Ausstattung bewirke allerdings, dass bei Männern eher Pauken und Trompeten spielen, bei Frauen die harmonietragenden Instrumente.

Schmitz: Kollege Hüther ist ein exzellentes Beispiel. Er argumentiert an vielen Stellen sehr zu Recht in Richtung Formbarkeit des Gehirns. Aber sobald es um das Geschlecht geht, argumentiert er sonderbarerweise deterministisch – und bezieht sich auf längst widerlegte Argumentationen. Es weiß zum Beispiel keiner, wer wie wann wo und mit wem gejagt hat. Michael Meuser hat einmal gesagt: Körperliches Geschlecht ist der letzte Hort der Sicherheit. Wenn es um Geschlecht geht, müssen plötzlich Sicherheiten her.

derStandard.at: Wenn kognitive Unterschiede verblassen – was ist mit den Hormonen? Die sollen ja erklären, wieso Burschen in der Schule aggressiver sind.

Schmitz: Hormone sind Botenstoffe. Und Botenstoffe sind durch die Umwelt ebenso beeinflussbar wie Gehirne. Das berühmte Testosteron ist ein gutes Beispiel. Wenn wir viel Sport machen, steigt unser Testosteronspiegel. Die Frage ist daher, macht Testosteron aggressiv oder produziert Aggression mehr Testosteron? Auch da sind Biologie und Umwelt nicht zu trennen. Natürlich sind Hormone an allen körperlichen Prozessen beteiligt. Testosteron und Östrogen regulieren fast alles im Körper mit - vom Kreislauf über Leber und Verdauung bis hin zum Knochen- und Muskelaufbau. Aber eine distinkte Trennung in biologische und Umwelteinflüsse kann hier nicht gezogen werden.

derStandard.at: Der Genderforschung wird immer wieder vorgeworfen, sie sei unwissenschaftlich, nur politisch und würde Interessen vertreten.

Schmitz: Ja, Genderforschung ist politisch. Aber jede andere Forschung ist das auch. Jede Forscherin, jeder Forscher hat bestimmte Vorstellungen und Ziele und ist in bestimmte Forschungszusammenhänge eingebunden. Jede Forschungsgruppe handelt ihre Methoden und Schlussfolgerungen aus, das zeigt die Wissenschaftsforschung seit circa 50 Jahren. Das ist zunächst auch nicht schlimm, weil es gar nicht anders geht. Es gibt weder neutrale Wissensgewinnung, noch gibt es die Wahrheit. Dem können und müssen wir gar nicht entkommen. Es geht nur darum, dass Entscheidungen transparent gemacht werden, damit die Wissenschaft und die Gesellschaft beurteilen und aushandeln können, ob ein bestimmtes Wissen zu einem bestimmten Zeitpunkt adäquat ist. Deshalb ist die feministische Wissenschaft zwar nicht die wahre, aber eine bessere Wissenschaft. Weil sie deutlich macht, mit welchen Methoden, Entscheidungen und Einflüssen sie Wissen produziert.

derStandard.at: Der zweite große Vorwurf: Genderforschung sei beliebig. Werde alles immer berücksichtigt, gerate man schnell vom Hundertsten ins Tausendste.

Schmitz: Und wieder: Auch dem entkommen wir nicht. Aber auch das betrifft jede ernstzunehmende Forschung. Das heißt, es muss immer eine Reflexion darüber geben, warum in bestimmten Zeiten, an bestimmten Orten, in bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Settings ein bestimmtes Wissen relevant ist. Wissenschaft ist immer auch Gesellschaft. Und Wissenschaft ist immer für Gesellschaft. Es geht darum, das zu reflektieren.

derStandard.at: Würden sich Männer und Frauen gleich entwickeln, wenn sie das gleiche Umfeld hätten?

Schmitz: Wir können nicht die reine Biologie von der reinen Sozialisation trennen. Doch gerade wenn es um unser Denken geht, zeigt die neuere psychologische Forschung zum "Stereotype Threat" eines sehr deutlich: Wir handeln und lernen immer auch nach Stereotypen. Vorurteile, wie Frauen und Männer seien oder zu sein hätten, beeinflussen unser Verhalten, unser Gehirn und auch die Forschung. Auch aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive wird damit klar: Um solche Vorurteile abzubauen, um Geschlechtervielfalt wahrnehmbar zu machen, ist eine geschlechtssensible Schreibweise notwendig. (Lisa Breit, derStandard.at, 30.7.2014)